Stuttgart:Opfer der eigenen Idee

Stuttgart: Passt genau: Aus dem Hintergrund trifft Admir Mehmedi (rechts) zum 4:3 für Leverkusen.

Passt genau: Aus dem Hintergrund trifft Admir Mehmedi (rechts) zum 4:3 für Leverkusen.

(Foto: Federico Gambarini/AP)

Der VfB verliert - gegen Leverkusen - erneut ein Spiel, das er eigentlich hätte gewinnen müssen.

Von Milan Pavlovic, Leverkusen

Alexander Zorniger blickte ernst, als er gefragt wurde, wann seine Profis das von ihm gewünschte Defensivverhalten wohl umsetzen könnten. Dann zeigte der Stuttgarter Trainer, dass er auch verbal jene Vorwärtsverteidigung bevorzugt, die Spiele seiner Elf so oft in ein Spektakel verwandelt. Er antwortete trocken: "Bis zum 22. oder 24. Februar. Wir arbeiten daran. Die Zeit bekommen die Spieler." So lange könnte also passieren, was dem VfB am Samstag erneut widerfuhr: Die Elf geht mit fliegenden Fahnen unter, verspielt eine 3:1-Führung und bestraft sich selbst für ihr wagemutiges Spiel, so wie bei der 3:4-Niederlage in Leverkusen.

Zorniger ist ein entschiedener, offensiver, selbstbewusst auftretender Schwabe. In ihren besten Momenten ist seine Mannschaft sein perfektes Abbild. In ihren schlechten ist sie das überforderte Kellerkind, das zweimal nacheinander nur knapp dem Abstieg entging. Die Frage ist, wie viel von dieser Überforderung derzeit auf den Trainer zurückgeht. In Leverkusen zeigte der VfB zum wiederholten Mal in dieser Saison seine Stärken: Nach dem 3:1 waren die Gäste zehn Minuten lang dem vierten Tor näher als der Champions-League-Vertreter dem Anschluss. Wäre der Treffer oder wenigstens der verdiente Sieg herausgesprungen, wäre Zorniger für seinen Spielstil gefeiert worden. So aber musste er zum wiederholten Mal erklären, ob er nicht generell zu riskant spielen lässt.

Bei seinen Ausführungen verstrickte sich Zorniger in Widersprüche. "Am Ende konnten wir die Eins-gegen-eins-Situationen nicht mehr verteidigen", sagte er in breitem Schwäbisch, "Bayer hatte Bewegungen drin und individuelle Klasse, an das Level kommen wir einfach nicht ran." Aber wenn er das wusste: Hätte er nicht vorsichtiger vorgehen müssen, wenigstens beim Stand von 3:1 und in Abwesenheit erfahrener Stützen wie Serey Dié (gesperrt) und Christian Gentner (verletzt)? "Wir können nicht zwischen Aktivität und Passivität hin- und herwechseln", bellte Zorniger. "Soll ich meinen Spielern sagen, sie sollen nach vorne verteidigen und dann passiv hinten stehen? Das kannst du nicht machen." Nein, für ihn war klar: "Wir haben Tore bekommen, die wir aufgrund der Qualität des Gegners zurzeit nicht verteidigen können."

In zehn Saisonspielen schon elf Gegentore ab der 70. Minute

In der Tat hatten einige Gegentore auf den ersten Blick wenig bis nichts mit Zornigers Vorwärtsverteidigung zu tun. Was aber auffällt: Drei Bayer-Treffer fielen nach der 70. Minute. Das ist ein VfB-Phänomen: Waren die Stuttgarter in den vergangenen Jahren für sehr späte Gegentore bekannt, setzt der Bruch nun früher ein. In sechs der zehn Saisonspiele hat der VfB ab der 70. Minute Gegentore kassiert, insgesamt schon elf; fünf dieser Partien gingen verloren.

Und das könnte dann sehr wohl mit dem VfB-Stil zusammenhängen.

Den Spielern fehlt im letzten Viertel der Partie offenbar jene Kraft und jene Konzentration, die notwendig ist, um Zornigers fordernde Philosophie durchzuziehen. Dann dauert es eben länger, sich vor einem Eckball zu sammeln wie vor dem Leverkusener 2:3; dann verliert man schon mal die Gegner hinter sich aus dem Auge wie vor dem 3:3, als zwei Werkskicker ungedeckt vor der Torlinie standen; dann wird man in der 89. Minute ausgekontert, weil sechs Spieler am Mittelkreis Pressing betreiben, ohne dass hinten die letzte Absicherung gegeben ist. Zu dem entscheidenden Zweikampf im Mittelfeld, der Leverkusen den Raum zum Konter gab, fiel Zorniger übrigens ein alter Fußballspruch ein: "Ich habe gelernt: Entweder kommt der Ball durch oder der Gegner - aber keinesfalls beide."

Sein Leverkusener Kollege Roger Schmidt war erleichtert, auch das zweite Match binnen fünf Tagen gedreht zu haben, nach dem 4:4 gegen den AS Rom diesmal sogar komplett. "Ich bin vor anderthalb Jahren hier angetreten, damit wir ein bisschen anders spielen. Das sieht man jetzt", sagte Schmidt, der wie Zorniger aus der Red-Bull-Fußballschule stammt. Er konnte es sich leisten, drei Dinge zu übergehen: Er ist von der Spektakel-Ideologie des ersten Jahres ein wenig abgerückt, weshalb vor den Spielen gegen Rom und Stuttgart von einer Torkrise geredet wurde (nur acht Treffer in neun Liga-Spielen); zwei Tore am Samstag (das 1:2 und das 4:3) waren wegen eines Fouls und einer Abseitsstellung kaum erkennbar irregulär; und bis zur 70. Minute wurde Bayer zeitweise vorgeführt.

Letzteres veranlasste Zorniger zu der Bemerkung, dass er "im Grunde nur Positives aus dem Spiel" mitnehme - "außer das Ergebnis". Vor den Aufgaben in Jena im Pokal ("ekelhaft") und gegen das auswärts unbesiegte Darmstadt in der Liga ("noch ekelhafter") hoffe er "auf einen Lerneffekt" - was er allerdings nicht auf sich, sondern mehr auf die Spieler bezog. Man müsste dennoch ein eingefleischter VfB-Verächter sein oder ein Fan des Verhinderungsfußballs, der derzeit auch in der Bundesliga en vogue ist, um sich zu wünschen, dass das Experiment des VfB Stuttgart scheitert; oder, etwas objektiver formuliert: so früh scheitert.

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