Sturzpech der deutschen Langläufer:Wo ist Tscharnke?

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"Das war's": Tim Tscharnke kurz nach seinem Sturz

(Foto: AFP)

Das Pech ist treu: Im Teamsprint der Männer verlieren die deutschen Ski-Nordisch-Sportler eine sicher geglaubte Medaille - mal wieder. Die Reaktionen der Betroffenen fallen seltsam lakonisch aus.

Von Thomas Hahn, Krasnaja Poljana

Hannes Dotzler machte sich auf den Weg zum Ziel. Es war gut gelaufen bisher im Teamsprint-Rennen, das er mit seinem Langlauf-Kollegen Tscharnke vom SV Biberau bestritt. Er hatte Tscharnke in aussichtsreicher Position auf die letzte Runde geschickt. Tscharnke lief mit dem Finnen Sami Jauhojärvi und dem Russen Nikita Krjukow um die Medaillen. Die anderen Konkurrenten waren schon weit weg, und die Ski liefen gut.

Dotzler, 23, ein Mann für die Zukunft im Skiverbands-Team der deutschen Ausdauerleister, durfte sich schon ein bisschen freuen, auch wenn er gerade nicht sehen konnte, was auf der Strecke geschah. Es sah so aus, als könne er an diesem kühlen Wintertag von Krasnaja Poljana die erste Olympia-Medaille seines Lebens gewinnen.

Dann hörte Hannes Dotzler ein Raunen. Dann sah er, wie der Finne auf die Zielgerade bog. Dann sah er den Russen.

Wo war Tim?

Das Bild vom verdutzten Tscharnke, wie er im Schnee liegt und seiner sicher geglaubten Medaille nachschaut, gehört in ein paar Monaten bestimmt zur Pflicht für Jahresrückblicke. Es lag so viel drin in diesem Blick des 24 Jahre alten Sport-Zollbeamten aus der Trainingsgruppe des Oberhofer Stützpunkttrainers Cuno Schreyl. Und es passte so gut zu den Unfällen, die gerade den Nordischen im Deutschen Skiverband (DSV) immer wieder widerfahren.

2013 bei der WM im Val di Fiemme bremsten die Langläufer Stock- und Skibrüche. Bei den Sotschi-Spielen markierte ein Sturz des späteren Team-Olympiasiegers Severin Freund den Auftakt der Skispringer von der Normalschanze. Kultcharakter könnte jene Szene vom Dienstag erlangen, in der die Kombinierer Fabian Rießle, Björn Kircheisen und Johannes Rydzek so ungestüm in eine Kurve stürmten, dass sie sich gegenseitig aus dem Rennen nahmen.

Und nun das. Ein Unfall bei der letzten Abfahrt vor dem Ziel.

Ein exzellentes Rennen hatten Dotzler und Tscharnke bis dahin geboten. Am Vormittag hatte es die Meldung gegeben, dass Tobias Angerer, 36, der frühere Gesamtweltcup-Sieger und Medaillengewinner, wegen eines grippalen Infekts die Heimreise angetreten habe. Das wirkte wie das unwürdige Ende einer großen Olympia-Langläufer-Karriere. Aber jetzt zeigte die neue Generation, was sie konnte. Alles schien möglich zu sein, sogar Gold, nachdem Stefanie Böhler und Denise Herrmann bei den Frauen zuvor Bronze im Zielsprint verloren hatten. Mit kurzen kraftvollen Schritten brachte sich Tim Tscharnke in Führung. Als es hinunter ins Stadion ging, war er ein bisschen zurück. Aber das musste nichts heißen.

Dann passierte es.

"Den kompletten Unterschenkel aufgeritzt"

Sami Jauhojärvi hatte den falschen Weg gewählt für die Fahrt ins Stadion, er sauste auf der Spur für den Durchlauf den entscheidenden Metern entgegen. Er wechselte auf die richtige Spur, in der Tscharnke zum Überholen heranrauschte. Tscharnke hatte keine Chance. Er lag im Schnee und kam nicht mehr hoch. Der Schwede Teodor Peterson fuhr vorbei, auch der indisponierte Weltmeister Petter Northug für Norwegens Zweier-Staffel. Das schöne Rennen war kaputt. Konnte das war sein?

Der DSV tat, was er tun musste: Protest gegen den Finnen, der natürlich meinte, er habe nichts falsch gemacht. "Ich war vorne", sagte Jauhojärvi, "ich glaube, das war ein rechtmäßiger Zug." Die Jury schaute sich den Sturz aus verschiedenen Perspektiven an, aber sah keinen Grund, den Finnen zu disqualifizieren. "Es gab schon Momente, mehr als genug, da wurden wir für so was disqualifiziert, und die waren bei weitem harmloser", grummelte Tscharnke.

Genau, sagte Bundestrainer Frank Ullrich: zum Beispiel vor Jahresfrist an gleicher Stelle. "Bei Olympia wird über den Protest einfach so lax drübergegangen", sagte Ullrich, "ich bin enttäuscht von der Jury." Für den DSV war Jauhojärvis Manöver ein klarer Verstoß gegen die Vorfahrtsregeln. "Glasklar sogar", sagte Sprecher Stefan Schwarzbach und lieferte ein Dokument, um das Ausmaß des Unglücks zu zeigen: ein Handy-Foto von der Fleischwunde, die seit der Begegnung mit Jauhojärvi Tscharnkes Bein ziert. "Der hat ihm den kompletten Unterschenkel aufgeritzt."

"Hätte ich gewusst, dass die anderen so weit weg waren..."

Dotzler und Tscharnke haben es letztlich so hinnehmen müssen. Die Medaille war futsch, nicht einmal eine Disqualifikation des Finnen-Duos hätte sie ihnen zurückgebracht, denn Tscharnke hatte sich nach dem Sturz nicht mehr in die Gänge bringen können und war letztlich auf Platz sieben ins Ziel gestapft. "Ich war so verhakt, und kaputt auch", sagte er, "wenn ich gewusst hätte, dass die anderen so weit weg waren, hätte ich mir beim Aufstehen mehr Mühe gegeben. Aber es war einfach der Gedanke: Es ist vorbei, das war's."

Der Finne hatte ihm bei seinem Spurwechsel die Moral aus der Langläuferseele gegrätscht. "Wir hätten es eigentlich verdient gehabt", sagte Tscharnke und übersetzte später das, was er den deutschen Reportern gesagt hatte, auch für die internationale Presse. Sein Befinden. "Shitty Feelings."

Eine seltsame Lakonie ging von den Reaktionen der geschlagenen Läufer aus. Bei den Kombinierern hatte es tags zuvor Tränen gegeben. Die Langläufer weinten nicht. "Wir werden uns zusammenraufen heute Abend, und dann ist das auch relativ schnell wieder vergessen", sagte Hannes Dotzler. Schuldzuweisungen? Waren jetzt nicht sein Thema. "Wie es passiert ist, ist eigentlich auch egal. Es ist passiert, und damit müssen wir jetzt klar kommen." Die Langlaufwelt war ungerecht an diesem Tag, und keiner konnte sagen, warum.

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