Stufenbarren:Freundschaftstest

Stufenbarren: Sophie Scheder, erste deutsche Medaillen-Gewinnerin am Stufenbarren seit 28 Jahren.

Sophie Scheder, erste deutsche Medaillen-Gewinnerin am Stufenbarren seit 28 Jahren.

(Foto: Dmitri Lovetsky/AP)

Die Deutschen Sophie Scheder und Elisabeth Seitz liefern sich einen außergewöhnlichen und äußerst knappen Kampf um Bronze.

Von Volker Kreisl

Turnen ist ein Sport, bei dem gerne mal "das ein oder andere Tränchen vergossen wird", wie es Elisabeth Seitz formuliert. Auf der Bühne vor mehr als 10 000 Zuschauern knapp zu scheitern, das tut eben weh. Aber so viel, wie in Rio beim ersten Gerätefinaltag geheult wurde, war dann doch außergewöhnlich. Vor Glück, vor Gram, von zarten Seelen, von starken Männern - geweint wurde an jedem Gerät, und man geriet fast in Sorge, dass im Innenraum die Taschentücher ausgehen. Aber nichts gegen die Gefühlsstürme der überraschenden brasilianischen Bodenturner und der kraftstrotzenden britischen Gewinner - das Sportdrama der Deutschen am Stufenbarren war wirklich zum Heulen.

Sophie Scheder aus Chemnitz, 19, passionierte Stufenbarrenturnerin, gewann knapp Bronze, es war ihre erste große Medaille und zugleich die erste Olympia-Medaille an diesem Gerät für eine Deutsche seit 28 Jahren, sieht man von Oksana Tschussowitina ab, die im sowjetischen System groß geworden war. Zugleich hatte Elisabeth Seitz, 22, aus Mannheim, trainierend in Stuttgart, knapp Bronze verloren - auch sie hatte Jahre in diesen einen, 40 Sekunden dauernden Vortrag investiert. Die beiden kennen sich natürlich vom Lehrgangstraining, von den Reisen, sie sind Sportfreundinnen, und nun wollte es dieser Wettkampf, dass die eine die andere aus dem Bronzerang warf, um 33 Tausendstelpunkte.

Scheder hatte als fünfte von acht Turnerinnen und erste Deutsche eine fabelhafte Leistung vorgelegt. Für ihre mit Schwierigkeiten vollgepackte Übung bekam sie eine sehr gute Haltungsnote und setzte sich hinter die überragenden Aliya Mustafina aus Russland und Madison Kocian aus den USA, die später Gold und Silber gewannen. Scheder gelang diesmal, was noch bei der WM in Glasgow schiefging: ein astreiner Abgang am Schluss. Scheder stand in der Matte ohne Korrekturschritt. Sie ging herunter, genoss ihre Note und Platz drei. Dann sah sie, wie die Chinesin Shang Chunsong hinter ihr landete, wie die Russin Daria Spiridonowa stürzte, da kapierte sie: Nur Seitz blieb noch übrig. Scheder und Bundestrainerin Ulla Koch hielten sich die Hände vor den Mund und aneinander fest.

Aber Scheder ist irgendwie anders als andere Athleten. Nach außen tritt sie außergewöhnlich offen auf und hält mit ihren Gedanken und ihrer Selbstkritik nicht hinterm Berg. Sie wirkt empfindsam, und Teamgeist hat sie jedenfalls auch, weshalb sie nicht lange zögerte und nach vorne lief und Seitz anfeuerte. "Ich musste erst mal verarbeiten, dass einer von uns auf jeden Fall Bronze hat, und dann hab ich hingeguckt", sagte sie, "weil ich ihr das genauso gegönnt habe und ich sie die ganze Zeit anfeuere, gerade am Barren, und da habe ich mir gedacht: warum nicht jetzt auch?"

Sophie Scheder und Elisabeth Seitz nehmen die Gewissheit mit: Sie gehören jetzt zur Weltklasse

Seitz war unterdessen im Tunnel. Sie hatte nur "am Rande" diese spezielle deutsche Bronzesituation mitbekommen. "Ich wusste gar nicht, was die anderen so geturnt haben", sagte sie. Das zu wissen, sei auch gar nicht so wichtig, denn "es geht darum, was man selbst macht". Seitz hat sich selber einmal als "Kampfsau" bezeichnet, weil sie an den Geräten alles geben kann, aber diesmal gelang ihr die Ausführung eines entscheidenden, besonders wertvollen Elements nicht perfekt. Nach dem Pak-Salto hatte sie vom oberen Holm zu wenig Schwung, womit das folgende Teil auch nicht perfekt war, weshalb sie nicht direkt über den unteren Holm zurückschwingen konnte. Und nun muss sie über all das hinwegkommen.

In solchen Momenten denken Sportler an sich, nicht an den größeren Zusammenhang. Das Stufenbarrenfinale von Rio ist aber auch eine neue Kerbe auf dem Weg der deutschen Turnerinnen in Richtung Weltspitze. WM- und EM-Medaillen markierten die ersten Fortschritte, eine Olympia-Plakette ist noch mal ein deutlicheres Zeichen. Koch sagte: "Wir wissen, dass wir nicht Olympiasiegerin werden, aber wir haben uns toll gesteigert." Nach einer ausgiebigen Pause soll es im Winter weitergehen. "Wir haben viel geschafft am Barren, wir haben uns sehr gesteigert am Schwebebalken, nun werden wir analysieren, was noch verbessert werden kann." Am Sprung fehlen noch die Doppelschrauben, am Boden fehlt die Akrobatik. "Wir wollen sehen, dass wir das bis Tokio 2020 entwickeln."

Immer geht es bei außergewöhnlichen Ereignissen hinterher ums Verarbeiten, Scheder sagte schon in der Mixed-Zone: "Ich gehöre jetzt zu Weltklasse, das habe ich allen gezeigt." Seitz weiß, "ich bin die Viertbeste der Welt, ich sollte eigentlich stolz sein, aber ich brauche noch ein bisschen, bis ich es realisiere". Bis Tokio wird es nicht dauern.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: