Stürmer in der Nationalmannschaft:Krise der Auftragskiller

Wer die Tore für Deutschland schießen soll, wird derzeit heiß diskutiert: Mario Gomez hält ein Plädoyer in eigener Sache, fällt dann aber verletzt aus. Joachim Löw lässt durchblicken, dass gelernte Stürmer bei ihm nicht unter Artenschutz stehen - und er sich gern ein Beispiel an Spanien nimmt.

Von Boris Herrmann

Zur Durchführung des allseits beliebten Fußballspiels sind ein rechteckiges Spielfeld sowie zwei rechteckige Tore unerlässlich. Relativ unumstritten ist auch, dass ein runder Ball benötigt wird. Sonst macht es keinen Spaß. Weiterhin werden als konstituierende Elemente seit Jahr und Tag genannt: ein unparteiischer Schiedsrichter, zwei Teams mit je einem Torhüter sowie diverse Abwehr- und Mittelfeldspieler. Es gab Zeiten, da entsprach es dem gesunden Fußballmenschen-Verstand, dass auch der ein oder andere Stürmer erforderlich sei, wenn es darum gehe, das Fußballfeld als Sieger zu verlassen. Diese Zeiten sind allerdings vorbei.

Der gelernte Stürmer Mario Gomez hat gerade über verschiedene Zeitungen ausrichten lassen, dass der gelernte Stürmer weiterhin gebraucht werde. Sein Plädoyer klingt nachvollziehbar. "In Topspielen brauchst du einen Killer, der den unbedingten Willen hat, Tore zu erzielen", argumentierte er. Dass sich Auftragskiller Gomez, der in den vergangenen Jahren für Bayern und die Nationalelf über 100 Tore geschossen hat, inzwischen um den Artenschutz in eigener Sache kümmern muss, zeigt aber nur, welche Ausmaße die Bedrohung für seine Berufssparte angenommen hat.

Das inzwischen weit verbreitete Gegenargument lautet: Auch offensive Mittelfeldspieler können den unbedingten Willen entwickeln, Tore zu erzielen. Und obendrein tragen sie im Gegensatz zum sogenannten Vollblutstürmer noch weitere erquickliche Dinge zum Gelingen eines Fußballspiels bei. Ein großer Verfechter dieser These ist ausgerechnet Joachim Löw, der Nationaltrainer von Gomez.

Es könnte gut sein, dass Löw beim deutschen WM-Qualifikationsspiel in Kasachstan eine Elf ohne echten Stürmer auf den Kunstrasen von Astana schickt. Der Dortmunder Mittelfeldspieler Mario Götze würde in diesem Fall wohl den Stürmer Gomez ersetzen - der nun ohnehin verletzt ist. Er zog sich im Abschlusstraining am Donnerstagabend eine leichte Zerrung im rechten Oberschenkel zu

Götzes Aufgabe wäre es, je nach Bedarf in den gegnerischen Strafraum ein- und wieder auszudringen. Der Volksmund hat dafür den Namen "falscher Neuner" erfunden. Der Götze-Mund verwendet lieber den Begriff "spielender Neuner".

Tore entscheiden über den Erfolg

Der echte Neuner - auch Stoßstürmer, Keilstürmer oder Knipser genannt - definiert sich dagegen klassischerweise dadurch, dass er den gegnerischen Strafraum als sein natürliches Habitat begreift. Dort lauert er seit Generationen mit seinem Killerinstinkt. Und trifft. Punkt. Niemand wäre auf die Idee gekommen, den Arbeitsbeitrag von Leuten wie Gerd Müller, Rudi Völler oder Oliver Bierhoff für verzichtbar zu halten. Das Dilemma von Leuten wie Mario Gomez ist, dass der Fußball an dieser Stelle vor einem Kulturwandel steht.

Für Löws Innovationsgeist gibt es zweierlei Gründe. Der erste ist fast schon ideologischer Natur. Löw liebt bekanntlich den spanischen, vor allem den katalanischen Kunstfußball. Die Nationalelf Spaniens hat bei der EM 2012 in Osteuropa erstmals ohne echten Stürmer gewonnen. Der FC Barcelona macht das ständig. Barça hat schließlich Messi, jenen kleinen Argentinier, der dem Weltpublikum wie kein anderer die Faszination eines offensiven Mittelfeldspielers mit Killerinstinkt vor Augen führt. Löw würde lieber gestern als morgen auf den spanisch-katalanischen Stil umstellen. Er ist nicht Erfinder des sturmlosen Angriffs, aber er will ein "Early Adopter", ein frühzeitiger Trittbrettfahrer, sein.

Der zweite Grund ist pragmatisch. Er ergibt sich aus Angebot und Nachfrage auf dem Spielermarkt. Im offensiven Mittelfeld existiert eine nie da gewesene Artenvielfalt. Mario Götze, Marco Reus, Mesut Özil, Thomas Müller, André Schürrle, Julian Draxler - sie alle lobt Löw als "bewegliche und vielseitige Spieler". Und deshalb sind sie für ihn auch die Alternative im Angriffszentrum. Akuter Mangel herrscht dagegen im Vollblutsturm-Bereich. Da gibt es zum einen den derzeit verletzten Miroslav Klose, der ohnehin schon immer eine komplizierte Mischform aus beiden Angriffsmodellen war.

Und es gibt Gomez. Ende, aus. Er wolle "die Stürmer nicht abschaffen", sagte Löw am Abend, nach der Ankunft in Astana. Aber, so der Subtext, er hat halt zu wenige davon. Vielleicht könnte man es so zusammenfassen: Löw reagiert mit seiner Strategie auf äußere Gegebenheiten. Aber er nimmt diese Gegebenheiten ganz gerne in Kauf - wie in der Bundesliga die artverwandten Strategen beim SC Freiburg, die sich ebenfalls zu den Early Adopters zählen. Auch Borussia Dortmund griff zuletzt auf die Null-Stürmer-Variante zurück, als Stürmer Robert Lewandowski wegen einer Rotsperre fehlte. Bei Eintracht Frankfurt war das Modell zuletzt ebenfalls zu bestaunen, aber da war es eher der Not geschuldet.

Mario Gomez hat mit Recht darauf hingewiesen, dass Fußball am Ende wohl doch Fußball bleibt. Dass letztlich also Tore darüber entscheiden, welches Modell sich dauerhaft durchsetzt. In diesem Sinne scheint die Trefferquote von Lionel Messi seiner Sache eher nicht zuträglich zu sein. Gomez aber sagte: Wenn einer 60 oder 70 Tore im Jahr schieße, sei er kein "falscher Neuner", sondern ein "echter Killer". Das war schlau. Damit hat er seinerseits Killerinstinkt bewiesen. Denn damit hat er das stärkste Gegenargument in ein hervorragendes Pro-Argument umfunktioniert. Aber er ist ja ohnehin verletzt.

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