Englischer Nationalcoach Stuart Pearce:Belächelt, beliebt und very british

Beim Fußballvolk auf der Insel kommt Stuart "Psycho" Pearce gut an, weil er als echter Engländer gilt. Dem Anforderungsprofil seines Verbands genügt er für die Zukunft allerdings nur bedingt. Im Test-Länderspiel gegen die Niederlande hat der englische Interimscoach genau 90 Minuten Zeit, sich als Teammanager für das EM-Turnier zu empfehlen.

Raphael Honigstein, London

Die Tür ist offen, der Zug nicht abgefahren, alle Karten sind noch nicht gelöst. Gut drei Monate vor EM-Start kommen die üblichen Klischees natürlich auch auf der Insel zum Einsatz, ausnahmsweise aber müssen an diesem Mittwoch im Wembley-Stadion nicht nur die Spieler gegen die Niederlande vorspielen, sondern zuallererst ihr Trainer. Stuart Pearce, der Interimscoach, hat genau 90 Minuten Zeit, sich als Teammanager für das Turnier zu empfehlen.

England Training

Bewährt er sich? Englands Interimstrainer Stuart Pearce (rechts im Bild).

(Foto: dpa)

"Ich habe meinen Vorgesetzten gesagt, dass ich die nötige Erfahrung mitbringe, falls sie mich im Sommer brauchen sollten", sagte der als U21-Trainer, Coach der Olympiaauswahl und bis vor kurzem als Assistent des zurückgetretenen Fabio Capello tätige 49-Jährige. "Ich glaube nicht, dass ich schon erfahren genug bin, das Nationaltraineramt dauerhaft auszuüben, aber ich könnte problemlos die EM übernehmen. Wenn ich eines habe, dann ist es Turniererfahrung."

Pearce führte die U21 in der Tat zu drei Endrunden, zwei davon wurden relativ erfolgreich bestritten. Doch ganz schlüssig ist seine Bewerbung nicht. Er traut sich die Hochdruck-Begegnungen in der EM-Vorrunde gegen Frankreich, Schweden und die Ukraine zu -, aber nicht jene 15 Monate der WM-Qualifikation für 2014 gegen Polen, Montenegro, die Ukraine, Moldawien, San Marino?

Der Interimstrainer will eine Übergangslösung bleiben. Es ist vermutlich gar nicht Bescheidenheit oder mangelnder Ehrgeiz, die aus diesem Wunsch sprechen - eher die Einsicht, dass der beim Volk als "Psycho" beliebte, aber auch belächelte Patriot mit dem strengen Seitenscheitel nicht wirklich dem Anforderungsprofil des Verbandes entspricht. Pearces enorme Ämterhäufung steht im Missverhältnis zu der Skepsis, die seine eher traditionelle Arbeitsweise begleitet.

Jugend-Nationalspieler berichteten, dass seine Leidenschaft für die englische Sache mitunter in brüllende Übermotivation ausarte. Und die britischen Zeitungen sind dieser Tage voll mit schrecklich-schönen Anekdoten aus seiner Profizeit, in welcher der beinharte Linksverteidiger fünf rote Karten sah und mit seinem Körpereinsatz selbst die eigenen Teamkollegen das Fürchten lehrte.

Der gelernte Elektriker wuchs ganz in der Nähe des Wembley-Stadions auf, als Jugendlicher sah er den amerikanischen Motorrad-Helden Evel Knievel dort über 13 Omnibusse springen und schwer verunglücken. "Aber er stand wieder auf, wie alle wahren Männer", erzählte Pearce dem Observer. Einmal, er war bereits 37, stand er mit einem gebrochenem Bein auf dem Platz. Er glaubte, den Schmerzen davon laufen zu können.

Die Alternative fehlt

Verbandschef David Bernstein, der mit seiner Intervention in der Rassismus-Affäre um den abgesetzten Teamkapitän John Terry den Italiener Capello mehr oder minder aus dem Amt gedrängt hat, präferiert weiterhin Harry Redknapp, den Trainer von Tottenham Hotspur. Trotzdem würde ihm eine überzeugende Leistung der Pearce-Elf gegen die Niederlande in die Karten spielen. Die Verhandlungen mit Spurs-Boss Daniel Levy über Redknapps Freistellung - für die EM und darüber hinaus - gestalten sich äußerst schwierig.

Levy ist der gewiefteste Geschäftsmann der Liga. Er weiß, dass der Football Association (FA) die Alternative fehlt, und er will Bernstein in finanzieller Hinsicht bluten lassen. Ein akzeptables Resultat gegen den WM-Zweiten ließe dem um Gelassenheit bemühten FA-Chef etwas mehr Spielraum.

Pearce übernimmt ein kapitänsloses England, dem wie so oft die Strukturen und eine übergeordnete Spielidee fehlen, aber er hat sich vor seinem persönlichen EM-Casting auch noch zusätzlich gehandicapt. Einige Routiniers (Lampard, Ferdinand) ließ er von vornherein zu Hause, nach dem Ausfall von Wayne Rooney (Halsentzündung) und Sturmpartner Darren Bent (Bänderriss im Sprunggelenk) hat er keine Profis nachnominiert.

Der "feel-good-factor", den James Milner (ManCity) nach Capellos Abschied in der Kabine ausgemacht haben wollte, ist wegen der Sorgen um die Offensive bereits verflogen. Angreifer Danny Welbeck (21, ManUtd), Daniel Sturridge (22, Chelsea) und Debütant Frazier Campbell (24, Sunderland) erwecken nicht unbedingt das Vertrauen der geplagten Fußballnation. Zudem wird gerätselt, auf welcher Position Rückkehrer Steven Gerrard vom FC Liverpool (letztes Länderspiel: November 2010) das Beste aus seinen Fähigkeiten machen kann.

Und am Dienstag verschob Pearce überraschend die Bekanntgabe seines neuen Kapitäns auf den Spieltag. Die Öffentlichkeit vernahm es zunächst achselzuckend - dann sickerte durch, dass Tottenhams Scott Parker fürs Erste der Auserwählte sein soll. Immerhin diese Leerstelle scheint also behoben.

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