Streit bei den Paralympics:Pistorius entfacht eine neue Techno-Debatte

Er war als Held der Paralympics vorgesehen, nun erhebt er als Verlierer Vorwürfe: Der unterschenkelamputierte Sprinter Oscar Pistorius klagt nach seinem zweiten Platz im Rennen über 200 Meter über die Prothesen des Siegers Oliveira. Der Fall zeigt, wie unausgereift die Regeln in der paralympischen Leichtathletik sind.

Jonas Beckenkamp

Es dürfte nicht erst seit Usain Bolt bekannt sein, dass bei Olympischen Spielen stets die schnellsten Männer der Welt im Fokus stehen. Sie sind die Helden der Leichtathletik, die gefeierten Größen, denen am meisten Popularität winkt - die Faszination der Geschwindigkeit begeistert die Zuschauer. Was für die kürzlich zu Ende gegangenen Spiele in London gilt, trifft auch für die Paralympics zu.

XIV. Paralympische Sommerspiele: Leichtathletik

Shakehands und trotzdem sauer: Oscar Pistorius (li.) gratuliert Alan Fonteles Cardoso Oliveira zu seinem Olympiasieg - danach äußerte der geschlagene Südafrikaner aber Kritik. 

(Foto: dapd)

Die besten Athleten mit Behinderung messen sich in diesen Tagen in der britischen Hauptstadt und es sieht so aus, als hätten die Wettkämpfe ihren ersten großen Aufreger. Als Schnellster - zumindest auf der Strecke über 200 Meter - war von den meisten Oscar Pistorius erwartet worden. Der Südafrikaner hatte auf internationler Ebene noch nie ein Rennen verloren, er ist das bekannteste Gesicht des Behindertensports.

Der "schnellste Mann auf keinem Bein" war mit seinen Prothesen aufgrund einer Sonderregel auch bei den Spielen der Nicht-Behinderten gelaufen, doch erst die Paralympics sollten seine persönliche Stärkedemonstration werden. Aber Pistorius flitzte nur als Zweiter ins Ziel. Trotz Führung bis kurz vor Schluss verlor er das 200-Meter-Finale mit sieben Hunderstelsekunden überraschend gegen den Brasilianer Alan Fonteles Cardoso Oliveira. Damit hatte niemand gerechnet, schon gar nicht der Besiegte selbst.

"Einfach nur traurig und polemisch"

Pistorius war enttäuscht, er hatte diese Goldmedaille eigentlich fest für sich eingeplant - und so klagte der "Blade Runner", dem einst nicht-behinderte Athleten Vorwürfe wegen eines Wettbewerbsvorteils durch seine Prothesen in "normalen" Rennen machten, nun seinerseits über das Regelwerk. Sein Einwand: Die Beinstelzen seines Gegners Oliveira seien länger als seine eigenen gewesen - ein deutlicher Wettbewerbsnachteil für den Südafrikaner. Nur so habe der Brasilianer es geschafft, ihn auf den letzten Metern abzuhängen. "Es war lächerlich. Das hier war kein faires Rennen", sagte Pistorius im Fernsehen.

Er habe mit der Schrittlänge seines Kontrahenten einfach nicht mithalten können, weshalb das Olympische Kommitee den Fall untersuchen solle. "Er kommt über Nacht mit Stelzen, die zehn Zentimeter zu hoch sind, und läuft solche Zeiten", sagte Pistorius: "Wir reden seit Monaten auf das IPC (Internationales Paralympisches Kommitee, d. Red.) ein, dass die Regel geändert werden muss, aber nichts ist passiert." Der Brasilianer entgegnete: "Er war bisher mein großes Idol. Aber es ist einfach nur traurig und polemisch, dass er solche Sachen sagt, nur weil ich gezeigt habe, dass er auch von diesem Planeten ist."

Erst auf der Pressekonferenz hatte sich der Silbermedaillengewinner wieder etwas beruhigt, an seinem Grundtenor hielt er aber fest: "Es war nicht unfair, Oliveira hat sich an die Regeln gehalten, aber Fakt ist: So schnell war er bisher noch nie. Auch nicht annähernd", sagte Pistorius. Diese Feststellung stimmte tatsächlich: In die Nähe seiner Siegerzeit von 21,45 Sekunden war der Brasilianer bis dahin nicht gekommen, seine schnellsten Läufe lagen bei Zeiten um die 23 Sekunden. Wie der Goldmann seine neue persönliche Bestmarke erreichte, lag für Pistorius auf der Hand: Die Technik hatte es möglich gemacht. Tatsächlich rannte Oliveira mit einer neu entwickelten Version seiner Prothesen, die jedoch regelkonform waren.

Grundsätzlich gilt in den paralympischen Sprintdisziplinen: Je länger die Prothese, desto schneller kann der Athlet laufen. Wer zudem groß gewachsen ist, hat extra Potenzial. Lange Kerle ziehen ihre Vorteile aus dem besseren Zusammenwirken von Kraft und Hebel, was ihnen größere Schritte und mehr Schnellkraft ermöglicht. Das gilt nicht nur für den 1,95 Meter-Mann Usain Bolt, sondern auch für seine behinderten Kollegen Oliveira und Pistorius.

Oliveira rannte regelkonform

Die maximal erlaubte Länge der Stelzen wird bei den Paralympics individuell für jeden Läufer berechnet. Eine medizinisch hergeleitete Formel, in der Faktoren wie Armlänge, Rumpflänge und Körpergröße mit einbezogen werden, bestimmt letztlich die Beschaffenheit der Prothese.

Auch im Fall des Olympiasiegers Oliveira wurde die Stelzenlänge kalkuliert - und wie es scheint, rannte er den Vorgaben des IPC entsprechend. Das sieht auch Thomas Nuss, der Teammanager der deutschen Leichtathleten bei den Paralympics so: "Man kannte den Brasilianer vor den Spielen kaum", sagte Nuss im Gespräch mit Süddeutsche.de: "Aber es wurde auch für ihn individuell die erlaubte Länge der Prothesen gemessen - so sind nun einmal die Regeln, das sollte Pistorius akzeptieren."

Die Kritik des Südafrikaners sei zwar nachvollziehbar, schließlich hatte er sie aus der Enttäuschung über seine verlorene Goldmedaille geäußert. Aber über die körperlichen Voraussetzungen, die Größe und die entsprechenden Berechnungsfaktoren eines Läufers lässt sich wohl schwer debattieren. "Es ist klar, dass Pistorius seine Niederlage trifft. Oliveira war vor einem Jahr noch deutlich langsamer und jetzt gewinnt er hier mit neuer Technik", sagt auch Heike Werner vom deutschen Paralympischen Sportbund: "Aber klar ist: Das wirft jetzt wieder die Diskussion um Techno-Doping auf."

"Einige Dinge sind extrem fragwürdig"

Debatten darüber, was erlaubt ist und was ein regelwidriger Wettbewerbsvorteil ist, beherrschen vor allem die Sprintdisziplinen im Behindertensport. Der aktuelle Fall demonstriert nun erneut, dass das Regelwerk keineswegs ausgereift ist - schließlich schreitet die Technologie rasch voran. "Da ist noch vieles in der Entwicklung, es wird sich immer wieder etwas verändern", erklärt Teammanager Nuss, "aber wir müssen den Ist-Zustand betrachten und da liefen alle nach den gleichen Regeln. Pistorius tut sich mit seiner Klage keinen Gefallen. Sein Gegner war einfach schneller."

Immerhin klang der Geschlagene tags darauf schon etwas versöhnlicher. "Ich wollte niemals den Moment des Triumphes eines anderen Athleten schmälern", sagte Pistorius in einem Statement, das er am Montag über die britische Nachrichtenagentur PA veröffentlichte: "Das war die Stunde von Alan und ich möchte deutlich machen, welchen Respekt ich vor ihm habe."

Pistorius erklärte in seiner Entschuldigung, er glaube weiterhin, dass die Länge der Prothesen ein Thema ist und er würde sich über eine Möglichkeit freuen, dies mit dem IPC generell zu diskutieren. Auch der deutsche 200-Meter-Finalist David Behre stimmte in die Kritik des Südafrikaners ein: "Da gibt es einige Dinge, die extrem fragwürdig sind - lange Unterschenkel, lange Feder", sagte der Siebtplatzierte im ZDF. Noch eindeutiger bezog der sechstplatzierte Schweizer Christoph Bausch Stellung: "Kein normaler Mensch hat solche Unterschenkel - das muss man einfach sehen."

Beim IPC selbst sind die Verantwortlichen nun erstmal darauf aus, den berühmten Pistorius zu befrieden, der in den ersten Momenten nach seinem zweiten Platz im TV ein wenig die Fassung verlor. Man werde mit Pistorius zu einem späteren Zeitpunkt über alles reden, hieß es. Wissenschaftsdirektor Peter van der Vliet sagt, das IPC habe Vertrauen in seine Formeln und Regeln. Aber: "So wie die Wissenschaft sich entwickelt, ist es unsere Verantwortung, diese zu überdenken." Nach den Spielen sollen diese Überlegungen beginnen, und Peter van der Vliet ahnt wohl schon, dass das viel Arbeit wird.

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