Süddeutsche Zeitung

Ski alpin:Atem anhalten an der Streif

Der ewige Zweite Beat Feuz gewinnt die Abfahrt in Kitzbühel. Doch der schwere Sturz seines Schweizer Team-Kollegen Urs Kryenbühl am Zielsprung löst wieder eine Sicherheitsdebatte aus.

Von Johannes Knuth, Kitzbühel

Der Tag, an dem sie in Kitzbühel am Ende doch wieder alle den Atem anhalten, beginnt unscheinbar, fast wie in einem dieser Katastrophenfilme made in Hollywood. Eine merkwürdige Schönheit liegt am Freitag über der Stadt, in der sonst 50 000 Zuschauer an einem Hahnenkammwochenende die Gassen mit den pastellfarbenen Häusern und der hohen Immobilienmakler-Dichte verstopfen. Diesmal sind die Straßen fast leer, Corona-bedingt, Polizeistreifen patrouillieren, allein 70 Mitarbeiter wachen darüber, dass sich kein Gast der Piste nähert. Kitzbühel hat sich einen besonders harten Entzug vom bierseligen Après-Ski-Volk verordnet, bloß keine Partybilder aus dem Schnee - mit Erfolg: Wer am Freitag im Zielraum über die Schulter blickt, erspäht weder Schwarzenegger noch Stahlrohrtribünen, sondern die Bergkette des Wilden Kaisers.

Einmal ausatmen statt Luft anhalten.

Auch im Ziel, das nur für Fahrer, Offizielle und Reporter geöffnet ist, haben sie für die erste Abfahrt am Freitag alles heruntergedimmt: Etwas Normalität in außergewöhnlichen Zeiten, aber kein Halligalli. Aus den Lautsprecherboxen wabert Kaufhausmusik, ein Sprecher verkündet Zwischenzeiten, die Sonne weicht den Schnee frühlingshaft auf. Der Geräuschteppich erinnert eher an ein Schülerrennen - bis zu dem Schock, als der Schweizer Urs Kryenbühl beim Zielsprung die Kontrolle verliert und auf den Kopf prallt. Später unterbricht der Wind das Rennen, Nachmittagsdunkelheit legt sich über die mittlerweile arg zerfurchte Strecke - ein gefährliches Gebräu. Gerüchte über eine Absage wabern, Beat Feuz, der spätere Sieger, wird im Anschluss den österreichischen Verbandspräsidenten Peter Schröcksnadel loben, der sich fürs Weitermachen eingesetzt habe. Als 30 Fahrer im Ziel sind, das Rennen also offiziell in die Wertung fließen kann, bricht die Jury die Abfahrt umgehend ab.

So bleibt am Ende auch der dumpfe Faustschlag in Erinnerung, den Feuz einer Bande versetzt, als er knapp zwei Stunden zuvor ins Ziel gerauscht ist. Alles scheint da zu entweichen, all der Frust, all die Freude, dass es endlich geklappt hat auf dieser verflixten Streif. "Ein krasser Tag", sagt der Schweizer, der selten zu Gefühlseruptionen neigt.

Und das passt ja schon zu dieser aufgekratzten Stille am Freitag: ein Sieger, der die meiste Zeit in sich ruht, egal wie sehr die Turbulenzen um ihn herumtoben.

Kaum einer streichelt den Schnee so schön wie der Schweizer - am Freitag erschuf er ein Meisterstück

Feuz hatte sich in den vergangenen Jahren offensiv für jene Ahnengalerie an Großmeistern empfohlen, die fast alles im Alpinsport gewonnen haben, nur nicht die mythenumrankte Streif-Abfahrt: Bode Miller etwa oder Aksel Lund Svindal. Feuz war Weltmeister 2017, er gewann in den vergangenen drei Wintern den Abfahrtsweltcup, dazu zwei Olympiamedaillen. Und in Kitzbühel? Wurde er viermal Zweiter, 2018 etwa, weil ein gewisser Thomas Dreßen eine Fahrt aufführte, die sich noch mehr dem Gewöhnlichen entzog. "Ich bin mit Kitzbühel im Reinen, auch wenn ich es nicht mehr gewinne", sagte Feuz im Vorjahr, aber seine süß-saure Miene verriet, dass das ein wenig geflunkert war.

Der 33-Jährige ist einer, der so gefühlvoll Ski fährt, wie Daniel Barenboim eine Sinfonie dirigiert. Abfahrer gelten oft als wilde Hunde, die Gleitpassagen und Kurven sind aber auch ein Fall für Feinfühlige, die genau wissen, wie hart sie die Kanten ins Eis pressen müssen - und kaum einer streichelt den Schnee so schön wie Feuz. Die aktuelle Saison hatte es noch nicht gut mit ihm gemeint, ein dritter Platz in Gröden, mehr nicht; aber Feuz, auch eine Fachkraft für die großen Momente, erklärte zuletzt, dass der weiche Schnee in Kitzbühel seiner gefühlvollen Fahrweise schon entgegenkomme. Und wie: Er schlängelte sich fehlerfrei durch Mausefalle und Steilhang, am Seidelalmsprung drehte er die Skier in der Luft so, dass sie ihn bei der Landung sofort in die richtige Richtung trugen, für die folgenden Kurven. Es sind diese oft unscheinbaren Passagen auf der wilden Streif, in denen die Sieger ihren Vorsprung erschaffen, so auch am Freitag: 0,16 Sekunden lag Feuz vor Matthias Mayer, dem Vorjahressieger aus Österreich, 0,56 Sekunden vor dem Italiener Dominik Paris.

Feuz hat gelernt, weniger Trainingseinheiten besser zu nutzen

Feuz hatte einst lange mit den Nebenwirkungen seines Geschäfts gehadert, die auch in diesem Winter die Startfelder arg ausdünnen, Knieverletzungen, Kreuzbandrisse, Meniskusschäden. Vor sieben Jahren entzündete sich sein Knie nach einer OP, Feuz vermied gerade noch eine Amputation. Er schaffte fortan oft nur noch ein Drittel des Trainingspensums, das die Teamkollegen abspulten. Aber für die Großereignisse, den einen Versuch an dem einen Tag, reichte die Kraft zumeist. Und dann fing er vor drei Jahren plötzlich an, fast den ganzen Winter über zu brillieren. Er habe mit der Zeit nun mal gelernt, die wenigen Einheiten, die ihm sein Körper gestattet, besser zu nutzen, sagte er im vergangen Winter. Wobei Andreas Evers, der lange die Schweizer trainierte und mittlerweile die deutschen Speed-Fahrer betreut, einmal gesagt hat, dass Feuz viel konsequenter arbeite, "als man ihm nachsagt". Und: Der scheinbar so Unbeirrbare flippe auch mal aus - "aber innerhalb von zwei Minuten ist er wieder bei sich und kann sich auf seinen Lauf konzentrieren".

Auch Evers' Fahrer standen am Freitag im Schatten des Siegers, aber auch so geballt in der Weltklasse wie selten zuvor: Andreas Sander egalisierte als Fünfter sein bestes Karriereresultat, knapp eine Sekunde hinter Feuz, Romed Baumann wurde Achter, Dominik Schwaiger Zwölfter, Josef Ferstl 13. - Letztgenannte schon bei sehr finsterer Bodensicht. Fürs Podium unterliefen Sander und Baumann am Freitag einige Fehler zu viel, trotzdem waren nicht nur die beiden "sehr zufrieden" (Sander), wohl auch, weil sie das Ziel sicher erreicht hatten.

Denn was so ruhig begonnen hatte, wuchs sich am Ende mal wieder zu einer klassischen Streif-Debatte aus: Fahrer und Betreuer hatten schon nach den Trainingsläufen vor dem Zielsprung gewarnt, am Freitag rauschten die Athleten auf dem schnelleren Schnee dort noch flotter heran, mit knapp 150 Stundenkilometern - im besten Fall führte das zu einer Art "Skispringen" (Josef Ferstl), im schlimmsten Fall zum Kontrollverlust, wie bei Kryenbühl. Er habe sofort an den Sturz von Daniel Albrecht gedacht, erzählte Feuz im Ziel, jenen Schweizer, der nach einem Sturz am selben Sprung vor zwölf Jahren um sein Leben rang. Sprünge, die bergauf gehen, über 60, 70 Meter, "das muss nicht sein", sagte Feuz nun. Kryenbühl, teilte der Schweizer Verband später mit, habe eine Gehirnerschütterung und einen Schlüsselbeinbruch erlitten, auch Kreuz- und Innenband seien gerissen - so weit die erste Diagnose. Der Amerikaner Ryan Cochran-Siegle, der zuvor in der Traverse gestürzt war, erlitt laut erstem Bulletin eine "leichte Halswirbelfraktur".

Die Sicherheitsdebatte dürfte also wieder an Fahrt aufnehmen: Die Verletztenliste im Weltcup war schon vor Kitzbühel lang. Und eine Abfahrt und ein Super-G stehen am Wochenende noch bevor.

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