Start der englischen Liga in Gefahr:Der Mob tobt - der Ball ruht

Der Krawall und die Folgen: Nach der Absage des Länderspiels zwischen England und den Niederlanden steht jetzt auch der erste Spieltag der Premier League an diesem Wochenende auf der Kippe. Experten ziehen bereits Parallelen zwischen den Ausschreitungen und Hooliganismus - der Fußball könnte eine neue politische Dimension bekommen.

Raphael Honigstein, London

Die Ausschreitungen der vergangenen Tage mögen ganze Häuserzeilen in Schutt und Asche gelegt haben, doch das Selbstverständnis der anständigen Mehrheit auf der Insel haben sie unberührt gelassen. Mit einem Gleichmut, den die Beteiligten selbst als "sehr britisch" preisen, haben freiwillige Schaufel-und-Besen-Bataillone in Clapham, Hackney und Birmingham den Schaden wieder aufgeräumt, während sich andere landestypisch in schwarzen Humor flüchteten.

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Tottenham-Stürmer Peter Crouch (li.) und seine Teamkameraden könnten am kommenden Samstag frei haben - wenn in England der Ligastart verschoben wird.

(Foto: AFP)

Die Zerstörungswut würde spätestens zum Wochenende aufhören, ging ein via Twitter verbreiteter Witz - wenn alle Randalierer auf ihren neuen Plasma-Fernsehern Fußball schauten.

Diese Rechnung droht allerdings nicht ganz aufzugehen. Nach der Absage des für Mittwochabend geplanten Länderspiels zwischen England und den Niederlanden steht jetzt auch der erste Spieltag der Premier League auf der Kippe. Speziell die drei am Samstagnachmittag terminierten Matches in der Hauptstadt (Queens Park Rangers gegen Bolton, Fulham gegen Aston Villa und Tottenham Hotspur gegen Everton) sind zusammen mit sechs unterklassigen Partien in London stark gefährdet.

Der Polizei an der Themse würden momentan schlichtweg die Ressourcen fehlen, heißt es, da für jedes Spiel in etwa hundert Beamte abgestellt werden müssten: "Die Premier League und die Football League sind betroffen von den jüngsten Bürgerunruhen", verkündete ein Sprecher der Ligen am Dienstagabend.

Weiter hieß es: "Wir befinden uns in laufenden Diskussionen mit der (Londoner) Polizei, alle Parteien werden die Situation am Donnerstag bewerten und eine weitere Stellungnahme abgeben." Es gebe keinen Grund, Spiele außerhalb von London als gefährdet zu betrachten, so der Sprecher, allerdings hatte sich diese Einschätzung nach den Vorkommnissen in Manchester, Wolverhampton, Birmingham und Bristol in der Nacht zum Mittwoch schon wieder überholt.

In London selbst blieb es nach drei Tagen Anarchie am Dienstag relativ ruhig. In Tottenham, wo die Unruhen am vergangenen Samstag ihren Ursprung nahmen, mag derzeit trotzdem niemand an Fußball denken. Ein Kartenverkaufsschalter vor dem Spurs-Stadion an der White Hart Lane wurde zerstört; nur 200 Meter südlich brannte ein großes Gebäude mit einem Teppichladen und 33 Wohnungen nieder, 25 Familien wurden obdachlos. "Ich frage mich, ob die Ligaspiele am Wochenende stattfinden können", sagte Tottenham-Mittelfeldspieler Rafael van der Vaart, "im Moment kann ich mir das nicht vorstellen."

Professionelle Pragmatik

Sein Mannschaftskollege Younes Kaboul sieht es ähnlich: "Wir wissen nicht, ob wir am Samstag spielen, die Ausschreitungen scheinen sich auszudehnen und sehr ernst zu sein. Falls es zu gefährlich wird, muss man das Match aus Rücksicht auf die Sicherheit der Fans verschieben."

Etwas pragmatischer, um nicht zu sagen professionell-unterkühlt, fiel dagegen die Sichtweise von Benoît Assou-Ekotto aus. "Ich hoffe, dass das Spiel stattfindet, die Saison ist schon anstrengend genug", sagte der französische Linksverteidiger der Spurs. "Sonst müssen wir wieder zwei Spiele in einer Woche bestreiten."

Tottenhams Geschäftsführer Daniel Levy zeigte sich tief berührt von den Unruhen, die den ärmlichen Stadtteil im Nordosten nach dem gewalttätigen Aufstand der schwarzen Unterschicht im Oktober 1985 ein zweites Mal verwüsteten. "Unsere Hoffnung ist, dass Ruhe und Ordnung so früh wie möglich hergestellt werden und wir unser Viertel wieder aufbauen können", sagte Levy, 49.

Ähnlich wie vor 25 Jahren hatte sich die Wut des Mobs auch am Samstag am Tod eines bei einem Polizeieinsatz ums Leben gekommenen Menschen entzündet. Mark Duggan, 29, ein mutmaßlicher Drogendealer, wurde unter noch ungeklärten Umständen von einer Polizeikugel getroffen.

Mit einem politischen Protest hatten die anschließenden Plünder-Orgien genauso wenig zu tun wie mit Fußball, aber es lassen sich interessante Parallelen ziehen. Der Times-Korrespondent Matthew Syed erkennt "ein Echo des Hooliganismus" in den Randalen und argumentiert, dass alle soziologisch aufgeladenen Fragen nach dem Warum damals wie heute den entscheidenden Aspekt verschleierten: der adrenalingeschwängerte Kick der Gewalt sei weitestgehend Ziel und Selbstzweck der Übung. "Fußball war nicht die Ursache der Gewalt", schreibt Syed, "aber Fußball war das Signal für alle, die sich an gesetzloser Barbarei berauschten.

Man traf dort auf Gleichgesinnte. Fußball wurde zu einer akzeptablen Form der Gewalt, weil man sie en masse und damit (voraussichtlich) straffrei ausüben konnte." Ähnlich ließen sich die derzeitigen Unruhen deuten. Jugendliche randalierten, weil die von den Behörden ungeahndete Zerstörung Lust und süchtig nach mehr mache.

So gesehen wäre es wohl in der Tat besser, wenn der Fußball am Wochenende noch nicht rollen würde; vielleicht kommt bis dahin ja auch der sehnlichst erwartete Regen. In einem Punkt ist sich das Königreich nämlich einig: Bei schlechterem Wetter wäre dieser Wahnsinn nie passiert.

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