Leon Draisaitl verpasst Stanley Cup:„Es tut wirklich, wirklich weh“

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82 Saisonspiele, erneut mehr als hundert Scorerpunkte – und „am Ende fehlen ein, zwei Schüsse“: Leon Draisaitl zieht nach dem Finale eine bittere Saisonbilanz. (Foto: Jim Rassol/USA Today/Imago)

Leon Draisaitl erlebt im NHL-Finale die größtmögliche Enttäuschung: Seine Edmonton Oilers holen einen 0:3-Rückstand gegen die Florida Panthers auf – und verlieren am Ende doch noch. Nun dürfte es um seine Zukunft gehen.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Wer hätte gedacht, dass es noch einmal einen derart herzzerbrechenden Eishockey-Moment geben würde wie den im Viertelfinale der Olympischen Spiele 1992 in Albertville? Das deutsche Team hatte die haushoch favorisierten Kanadier in ein Penalty-Schießen gezwungen; Peter Draisaitl läuft an, er muss treffen, und er schiebt den Puck durch die Beine des geschlagenen Torwarts. Die Hartgummi-Scheibe vollführt ein Tänzchen auf dem Eis, dem Ziel entgegen – sie bleibt jedoch, und es kann kein schlimmeres Scheitern geben, auf der Torlinie liegen.

Wer Sport treibt, weiß natürlich, dass Niederlagen dazugehören, selbst wenn sie schmerzen. Wer jedoch wissen will, wie sich ein gebrochenes Herz anfühlt, sollte dem Triumph so nahe wie möglich kommen – und dann scheitern. „Es tut wirklich, wirklich weh“, sagte Peter Draisaitls Sohn Leon am Montagabend in der Eishockey-Arena der Florida Panthers mit dem Blick, den nur Sportler nach größtmöglichen Enttäuschungen so traurig hinkriegen: „Am Ende fehlen ein, zwei Schüsse.“

NHL
:Das Zwei-Prozent-Finale

Die Edmonton Oilers lagen 0:3 zurück in der Finalserie gegen die Florida Panthers – und erzwingen als zweites Team der Geschichte ein entscheidendes siebtes Spiel. Angreifer Leon Draisaitl will das erstaunliche Comeback mit dem ersten Titel seiner Karriere vollenden.

Von Jürgen Schmieder

Das war passiert: Die Edmonton Oilers, bei denen sich Draisaitl junior in zehn Profijahren zu einem der besten Angreifer der Welt entwickelt hat, hatten in der Finalserie gegen die Florida Panthers einen 0:3-Rückstand aufgeholt, als erst drittes Team der NHL-Geschichte. Nun lagen sie wenige Minuten vor dem Ende der entscheidenden siebten Partie 1:2 zurück, sie mussten treffen. Draisaitls Sturmpartner Connor McDavid bekam die Scheibe vor Floridas Torwart Sergei Bobrowski und legte sie quer. Bobrowski war geschlagen, er lag wie ein Marienkäfer auf dem Eis, der Puck glitt keinen Meter vor dem unbewachten Tor zu Oilers-Stürmer Zach Hyman, der sie nur reindrücken musste. Dreimal probierte er es, der Puck schlitterte dem gelobten Land entgegen – allerdings in den Handschuh des eigentlich geschlagenen Bobrowski auf der Torlinie.

 „Es ist kein Traum mehr, sondern Realität“, sagte Floridas Kapitän Matthew Tkachuk danach. Wie Draisaitl hat auch er einen berühmt-tragischen Vater – Keith Tkachuk gewann in 18 NHL-Jahren nie den Stanley Cup –, und er weiß auch, wie sich Scheitern anfühlt: In der vergangenen Saison hatten die Panthers die Finalserie gegen die Vegas Golden Knights verloren. „Mein Vater hat mich heute vor dem Spiel bei uns daheim zum Auto gebracht – das war ein ganz besonderer Moment“, sagte Tkachuk: „Ich kann es immer noch nicht glauben; aber ich weiß: Es ist kein Traum mehr.“

Über die Verletzungen verliert Draisaitl kein Wort

Für die Edmonton Oilers freilich fühlte es sich eher an wie ein Albtraum – nicht nur, weil sie dem Triumph nach Comeback in Viertelfinale, Halbfinale plus Finalserie so nahe gewesen waren, sondern wegen des Was-wäre-wenn, das mitschwang. Nein, es war nicht Hymans große Chance, die sie beschäftigte, sondern die Verletzungen von Draisaitl. Zum fünften Mal in seiner Laufbahn hatte er in der regulären Saison mehr als 100 Scorerpunkte erzielt: 106 waren es diesmal, 41 Tore und 65 Vorlagen, und in den ersten beiden Playoff-Runden machte er ganz einfach weiter: zehn Punkte gegen die Los Angeles Kings, 14 gegen Vancouver. Das war der beste Wert der Liga, zudem schaffte er den 100. Playoff-Scorerpunkt seiner Karriere – im 60. Spiel. 1,66 Punkte pro Playoff-Partie: Eine bessere Quote schaffte lediglich Wayne Gretzky (1,83), der allgemein anerkannt beste Eishockeyspieler der Geschichte.

Die Scorerpunkte von Draisaitl in den 13 Halbfinal- und Finalspielen: insgesamt sieben. Was in aller Welt war da los?

Sagen wir es so: Ein verstorbener NHL-Profi würde, solange sein Team in den Playoffs dabei ist, als Zombie aufs Eis kommen und seine Beerdigung auf den Tag nach dem letzten Spiel legen – in der Öffentlichkeit aber kein Wort darüber verlieren.

Der Stanley Cup geht nach der langen Finalserie an die Florida Panthers. (Foto: Wilfredo Lee/AP)

Vor zwei Jahren hatte Draisaitl trotz eines Syndesmoserisses im rechten Knöchel durchgehalten, nun war er nach einem Zusammenprall im Viertelfinale offensichtlich angeschlagen. Aus dem Umfeld der NHL ist zu hören, dass Draisaitl angeblich mit lädierten, vielleicht sogar gebrochenen Rippen durchgehalten hat und dass er sich ein paar Spiele später auch noch den Zeigefinger der linken Schusshand gebrochen hatte. In anderen Sportarten fährt so einer ins Krankenhaus oder nach Hause; im Eishockey fährt so einer die drittlängste Zeit aller Angreifer beider Teams übers Eis – in der Hoffnung, dass einem solch einzigartigen Akteur die einzigartige Aktion gelingt, die dieses bedeutsame Spiel entscheidet.

Drei-, viermal probierte er es während der siebten Partie von seiner Lieblingsposition aus, direkt von halbrechts, und gewöhnlich trifft er dabei ein-, zweimal oder provoziert einen gefährlichen Abpraller. Diesmal: Kein Treffer, kein Schuss ging überhaupt aufs Tor. „Es hat nicht sollen sein“, sagte Draisaitl, der auch nach diesem Spiel nicht konkret über seine Blessuren sprechen wollte, sondern lediglich sagte: „Jeder hat was zu diesem Zeitpunkt der Saison; der eine weniger, beim anderen ist es schlimmer. Aber da musst du durch, auch deshalb lieben wir dieses Spiel.“

„Jetzt musst du wieder 82 Saisonspiele absolvieren und gut genug sein, um noch mal eine Chance zu kriegen.“

Im Oktober wird Draisaitl 29 Jahre alt, und er hat immer wieder glaubhaft versichert, wie wenig ihm individuelle Erfolge bedeuten – ob Trophäen wie die für den besten Punktesammler oder wertvollsten Spieler der regulären Saison (beide 2020) oder die Auszeichnung zum besten Passgeber der Liga bei einer Umfrage unter den NHL-Profis (2023). Das einzige Ziel, das er hat, ist dieser Cup, und er wirkte deshalb umso trauriger, als er sagte: „Du bist so nah dran, dieses Ding zu gewinnen – und jetzt musst du wieder 82 Saisonspiele absolvieren und gut genug sein, um noch mal eine Chance zu kriegen.“

Genau darüber reden sie bereits in Edmonton, sie kennen da keine Gnade im US-Sport. So wie drei Sekunden nach dem Ende der letzten Partie einer Saison Fanartikel des Meisters feilgeboten werden, so geht es in Analysen sogleich um die Zukunft. Und die Zukunft von Draisaitl ist ja tatsächlich interessant: Sein Vertrag läuft zwar noch eine weitere Saison, doch liegt darin das Problem: Edmonton dürfte langfristig verlängern wollen, ansonsten müssen sie Draisaitl in der Sommerpause tauschen, sollten sie irgendeinen Gegenwert erhalten wollen. Im Grunde liegt die Entscheidung deshalb bei Draisaitl – ob er sich mittelfristig in Edmonton sieht.

Wenn diese größtmögliche Enttäuschung etwas Gutes haben könnte für die Edmonton Oilers, dann dies: Draisaitl hat gesehen, dass es dieses Team ins Finale schaffen kann. „Da sind so viele Persönlichkeiten in dieser Kabine, die nie aufgegeben haben“, sagte er: „Ich hoffe, dass viele davon auch in der nächsten Saison da sein werden.“ Er sah dabei so aus, als würde er mit dieser hoffnungsfrohen Aussage auch sich selbst meinen.

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