Standardsituationen bei den Bayern und Löw:Abneigung gegen das schlichte Kunstwerk

Der FC Chelsea besiegt den FC Bayern im Champions-League-Finale auf die deutsche Art: mit einer Standardsituation und im Elfmeterschießen. Didier Drogba verwandelt die einzige Ecke der Londoner, während der FC Bayern in unzähligen Standards nichts zustande bringt. Doch Bundestrainer Joachim Löw wird für die EM deshalb kaum seinen Trainingsplan umwerfen.

Thomas Hummel

Matthias Sammer brachte gerade noch die Kraft auf, dem FC Chelsea zum Sieg zu gratulieren. Dann überkam es den Sportdirektor des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) aber. Sein ganzer Widerwille, dieses Ergebnis anzuerkennen, kam zum Vorschein: "Wenn das die Zukunft des Fußballs ist, ist das eine Katastrophe."

Wer es vergessen hat: Matthias Sammer ist Repräsentant der bislang letzten deutschen Fußball-Generation, die von einem Leitgedanken geprägt war: Es ist egal, wie du spielst, Hauptsache du gewinnst! Und wenn du 89 Minuten nur verteidigst und dann eine dröge Standardsituation nutzt.

Standardsituation! Ein Wort, das im modernen Fußball-Deutschland ein ähnlich staubiges Ansehen hat wie Omas Brockhaus-Lexika im Wandschrank. Braucht man das noch? Jetzt, da die Boys aus dem Fußballinternat den Ball über den Rasen flitzen lassen, schneller als sich die Wissens- und Enzyklopädie-Seiten im Internet aufbauen.

Explizit hat Matthias Sammer die Standardsituation des FC Chelsea nach dem Champions-League-Finale am Samstag in München nicht erwähnt. Die hat er in der Analyse vergessen, dabei wäre es der einzige Punkt gewesen, an dem der 44-Jährige ins Schwärmen geraten wäre. Es gab überhaupt nur einen Standard der Engländer, nach 88 Minuten, ihre erste Ecke. Juan Mata schoss den Ball an das erste Eck des Fünfmeterraums, haargenau über den springenden Philipp Lahm hinweg. Didier Drogba hatte Anlauf genommen mit dem Ziel erstes Fünfmeterraum-Eck, sein Kollege Frank Lampart half mit einem kleinen Block dabei, Gegenspieler Jérôme Boateng abzuhängen.

Die Flugbahn des Balles und Drogbas Laufweg trafen sich im idealen Moment, und dann wuchtete der Ivorer die Kugel per Kopf ins Netz.

Das 1:1 des FC Chelsea kurz vor dem Ende der regulären 90 Minuten war in seiner Schlichtheit, in seiner ganzen Profanität großer Sport. Die Choreografie war perfekt und vermutlich einstudiert. Der Umstand, dass Mata und Drogba nur diesen einen Versuch hatten, macht aus der Szene fast ein Kunstwerk.

Zur Erinnerung: Der FC Bayern hatte im gesamten Spielverlauf 20 Ecken. Hinzu kam fast die gleiche Anzahl an Freistößen, die in oder über den Strafraum des FC Chelsea segelten. Ertrag: null. Selbst als am Ende der 1,96 Meter große Daniel Van Buyten oben aus dem Pulk im Strafraum herauslugte, vermochten es die Münchner nicht, eine einzige kribblige Szene aus all diesen Standardsituationen zu erschaffen.

Auswirkungen auf die EM?

Der Ursprung dieser deutschen Abneigung gegen den Eckball liegt in der Erkenntnis, dass man mit dieser Art Fußball im Normalfall nichts mehr gewinnen kann. Er liegt in einer Zeit, als deutsche Mannschaften und vor allem die deutsche Nationalmannschaft genauso spielten, wie der FC Chelsea am Samstag in München: die fußballerischen Mängel verschleiernd hintendrin, sich in die Schüsse werfend und in die Flanken springend und vorne darauf wartend, dass Oliver Bierhoff einen Freistoß einköpft. Die Jahre um die Jahrtausendwende stehen als dunkle Zeit des deutschen Fußballs. Und nun wird der FC Bayern im Champions-League-Finale im eigenen Stadion genauso besiegt. Noch dazu im Elfmeterschießen. Auf die ganz und gar deutsche Art. Selbst in England kann das niemand so recht fassen.

Welche Auswirkungen dieser Samstagabend auf die Europameisterschaft hat? Das Trainerteam um Joachim Löw befasst sich bereits mit den psychologischen Folgen, spricht sich und den Spielern Mut zu, will Zweifel gar nicht erst aufkommen lassen. "Die Bayern-Spieler brauchen ein paar Tage, dann werden sie ein neues Ziel vor Augen haben. Sie werden ihre Rolle einnehmen, sie können den Schalter umlegen - das haben sie schon oft bewiesen", sagte Löw im ZDF.

Doch wird der Fußballästhet Löw auch Schlüsse für seine fußballerische Trainingsarbeit ziehen? Auch er wurde ja schon mal hart von einer Standardsituation getroffen, damals in Durban bei der WM 2010: Ecke Xavi, Kopfball Puyol, Aus.

Eine Änderung in Löws Trainingsplan ist aber nicht in Sicht. Seit er zusammen mit Jürgen Klinsmann 2004 die DFB-Elf übernahm, hat er den Aspekt Standardsituation konsequent vernachlässigt. Lange Zeit aus der puren Not heraus, den Spielern binnen weniger Wochen Turniervorbereitung geordnetes taktisches Verhalten und vertikales Passspiel beizubringen. Oder einen Fitnessrückstand gegenüber der Weltelite aufzuholen.

Diesmal klagt der Bundestrainer über eine zerrüttete Turnier-Vorbereitung, weil die acht Bayern-Profis erst am Ende dieser Woche, also nur zwei Wochen vor dem ersten Gruppenspiel gegen Portugal am 9. Juni in Lemberg, im Trainingscamp eintreffen. "Vielleicht muss ich den ein oder anderen Themenpunkt streichen", kündigte er an. Darunter könnten sich durchaus der ein oder andere Eckball sowie der ein oder andere Freistoß befinden.

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