Süddeutsche Zeitung

Standards der DFB-Elf:Löws neue Liebe

Auch Schabernack-Varianten wie jene von Thomas Müller können Joachim Löw nicht mehr umstimmen: Er hat seine Liebe zur langweiligen Standardsituation entdeckt - und dafür seine Spielidee radikal korrigiert. Im WM-Halbfinale gegen Brasilien droht ein Wett- und Zielschießen.

Von Christof Kneer, Santo André

Wenn - also: falls - die deutsche Nationalmannschaft in einer Woche Fußball-Weltmeister sein wird, dann wird sich die Sport-Geschichtsschreibung auf die Suche machen. Historiker forschen ja immer nach Grund und Anlass für ein Ereignis, auch für die Legendenbildung im Sport ist so etwas immer wichtig zu wissen: Wer wann den zündenden Einfall hatte - und warum.

Welche Rolle spielte der Confed Cup, das WM-Test-Turnier in Brasilien, im Juni 2013? Inwieweit war die Champions League ein prägender Einfluss? Und was geschah im Mai 2014, im WM-Trainingslager der Deutschen in den Bergen von Südtirol?

"Irgendwann war der Zeitpunkt gekommen, an dem wir gesagt haben: Jetzt muss die Spielidee mal hinten anstehen, jetzt müssen wir uns auf andere Dinge besinnen": Das sagt Urs Siegenthaler einen Tag vor dem WM-Halbfinale der Deutschen gegen Brasilien. Siegenthaler, 65, führt seit zehn Jahren den Titel "Chefscout", aber in Wahrheit war er in all den Jahren immer mehr als das: Er war nicht nur Auge und Ohr von Joachim Löw, sondern auch sein ständiger Vor-, Mit- und Nachdenker.

So ist es bis heute: Die Eindrücke und Trends, die Siegenthaler von seinen Reisen mitbringt, werden ins schweizerisch-taktisch geprägte Weltbild der beiden eingepasst und an Deutschlands beste Fußballspieler weitergegeben. So hat sich über die Jahre jener Löw-Fußball herausgebildet, der die Republik zunehmend in Sympathisanten und Kritiker gespalten hat.

Was die Kritiker zum Beispiel immer gestört hat: dass in dem Weltbild niemals die sogenannten "stehenden Bälle" vorkamen, wie Siegenthaler die Standardsituationen nennt. Vielleicht sagt dieser schweizerische Terminus schon, warum Löw diese Bälle all die Jahre demonstrativ aus seinem Weltbild ausgeschlossen hatte. Er will ja keine Bälle, die stehen. Er will Bewegung, überall, Spieler sollen abspielen und sich sofort wieder anbieten, "spielen und gehen", heißt das in der alemannisch-schweizerischen Fachsprache. Von Spielen und Stehen war bisher nie die Rede.

Nun haben sich Joachim Löws Alemannen also ausgerechnet mit stehenden Bällen fürs WM-Halbfinale gegen Brasilien qualifizieren können, drei Tore fielen nach Eckbällen, eines nach einem Freistoß, eines per Elfmeter. "Das ist natürlich kein Zufall", sagt Urs Siegenthaler.

Es ist in den vergangenen Wochen ja hinreichend besprochen worden, wie ausgiebig und originell die Deutschen in ihren Camps in Südtirol und Brasilien Varianten und Laufwege eingeübt haben, und nun erhellt sich auch der Grund für diesen Paradigmenwechsel im deutschen Spiel. Als Erweckungserlebnis gilt Siegenthalers Besuch beim Confederation Cup 2013; da sei ihm aufgefallen, "dass viele Teams ihr Spiel bei diesen Bedingungen vor allem auf Standardsituationen anlegen", sagt er.

Siegenthaler nennt die Nationen lieber mal nicht, das würde er als Geheimnisverrat empfinden, aber man darf gerne heraushören, dass er unter anderem die Gastgeber meint. Auch die Brasilianer (vor allem die Generation 2013/14) lassen sich gerne von Standardsituationen ins Spiel helfen, wie im aktuellen Turnier unschwer zu übersehen war. Sämtliche Tore in der K.o.-Runde - im Achtelfinale in Belo Horizonte gegen Chile, im Viertelfinale in Fortaleza gegen Kolumbien - haben die Brasilianer aus stehenden Bällen entwickelt.

Brasilien gegen Deutschland - was nach einem kreativen Date in der Künstlerkolonie klingt, könnte auch zu einer Art Wett- und Zielschießen werden. Wer zirkelt die präzisere Ecke? Wer findet den besseren Kopfballspieler? Wer hat den schlaueren Trick? "Bei den Brasilianern erkennt man ganz klar die Ausrichtung: Priorität hat der Titel", sagt Siegenthaler. Für ihr Seelenheil brauchen die Brasilianer zurzeit nicht unbedingt ein Dribbling von Garrincha, einen Pass von Zico, einen Übersteiger von Ronaldinho. Ein Freistoß von David Luiz reicht ihnen im Moment völlig.

Aber auch in dieser Disziplin fühlen sich die Deutschen inzwischen - mindestens - ebenbürtig. Siegenthalers Confed-Cup-Erfahrung hat sich längst ausgezahlt. Kaum war er im vorigen Sommer aus Brasilien zurück, hörte man Löw schon Interviews geben, in denen er wie selbstverständlich vom Wert der Standardsituationen sprach; das ist ungefähr so, als würde Angela Merkel sagen, sie sei schon immer eine Anhängerin des Mindestlohns gewesen.

Löws Bereitschaft, den stehenden Ball ins Repertoire zu integrieren, wurde radikal verstärkt durch die Eindrücke der Champions-League-Saison, in der Real Madrid den FC Bayern mit ein paar stehenden Bällen aus dem Wettbewerb rammte; all diese Bilder waren dann eine dankbare Vorlage für Löws pragmatischen Assistenten Hansi Flick, der seine Vorliebe für Ecken und Freistöße endlich nicht mehr unterdrücken musste.

Er hat dann die berühmten Arbeitsgruppen bilden und die Spieler verschiedene Varianten aushecken lassen - was ebenso zu seriösen Abläufen führte wie zu jener Schabernack-Variante, bei der Thomas Müller erst absichtlich stürzte, sich dann aufrappelte und weiterrannte.

Der Trick habe im Übrigen gut geklappt, darauf beharrt Thomas Müller immer noch; die Abwehrspieler seien "total abgelenkt" gewesen, sagt er, nur die Vorlage von Toni Kroos sei "halt 30 Zentimeter zu tief gekommen".

In einen möglichen Standardwettbewerb im Halbfinale ziehen die Deutschen nun mit dem Gefühl, übers tauglichere Personal zu verfügen. "Auf Standards zu setzen, ergibt natürlich nur Sinn, wenn man auch die passenden Spieler hat", sagt Siegenthaler, "sonst können sie das tausendmal trainieren, und es wird nichts."

Seit Toni Kroos eine zentrale Rolle im Team spielt, ist der ideale Standardschütze gefunden, und zu ihm passen die mehrere Meter großen Hummels, Höwedes und Mertesacker als Zielspieler. Den Brasilianern dagegen fehlt der verletzte Neymar ebenso wie der gesperrte Thiago Silva. Der eine ist der beste Standard-Schütze. Der andere ist der beste Standard-Verwerter.

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Quelle:
SZ vom 08.07.2014/schma
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