Stadionkatastrophe in England:Wahrheit über Hillsborough

Jahrelang hieß es, Liverpooler Fans hätten 1989 die Stadionkatastrophe von Hillsborough mit 96 Toten verschuldet. Nun ist klar: Polizisten fälschten Beweise, Rettungskräfte versagten. Erst jetzt kommt die Vertuschung ans Licht.

Christian Zaschke, London

Mehr als 23 Jahre lang haben die Angehörigen der Toten des Hillsborough-Desasters auf diesen Tag warten müssen. Mehr als 23 Jahre lang mussten sie mit dem Vorwurf leben, dass die 96 Frauen, Männer und Kinder, die im April 1989 bei der Stadionkatastrophe ums Leben gekommen sind, zum Teil selbst für ihren Tod verantwortlich gewesen sein sollen.

Stadionkatastrophe in England: Katastrophe vor 23 Jahren: Die Tragödie von Hillsborough.

Katastrophe vor 23 Jahren: Die Tragödie von Hillsborough.

(Foto: AP)

Mehr als 23 Jahre lang haben sie dafür gekämpft, die Wahrheit über die Geschehnisse an jenem Tag zu erfahren, an dem das Pokalhalbfinale zwischen den Fußballklubs Nottingham Forest und dem FC Liverpool, das im Hillsborough-Stadion von Sheffield ausgespielt werden sollte, in einer Tragödie endete. Sämtliche Tote waren Anhänger des FC Liverpool, die erdrückt wurden, weil die Polizei viel zu viele Menschen auf eine der Tribünen gequetscht hatte.

Am Mittwoch hat der britische Premierminister David Cameron sich im Parlament in einer beeindruckenden Rede bei den Angehörigen entschuldigt. Er reagierte damit auf eine neue Untersuchung, deren Ergebnisse am Mittwoch vorgelegt wurden. Cameron sagte: "Im Namen der Regierung und des ganzen Landes tut es mir zutiefst leid, dass diese doppelte Ungerechtigkeit so lange nicht berichtigt wurde." Mit der doppelten Ungerechtigkeit den Angehörigen gegenüber meinte er einerseits "das Versagen des Staates, die geliebten Menschen zu schützen und das unerträgliche Warten auf die Wahrheit" sowie andererseits das Bemühen von Behörden zu unterstellen, dass die Verstorbenen "in irgendeiner Weise die Schuld an ihrem eigenen Tod trügen". Die Entschuldigung des Premierministers wurde von den Angehörigen und in ganz Liverpool mit Erleichterung aufgenommen.

Angehörige hatten mehr als 20 Jahre lang dafür gekämpft, dass eine unabhängige Kommission sämtliche verfügbaren Unterlagen über die Katastrophe auswerten kann. Normalerweise bleiben Kabinettsunterlagen 30 Jahre lang unter Verschluss, doch im vergangenen Jahr hat das Parlament der Freigabe der Dokumente zugestimmt. Die Kommission unter Vorsitz des Liverpooler Bischofs James Jones wertete daraufhin 400.000 Seiten Material aus. Ihren Abschlussbericht, der am Mittwoch zunächst den Angehörigen der Toten präsentiert wurde, nannte Premierminister Cameron "zutiefst erschütternd".

Das liegt daran, dass der Bericht unter anderem enthüllt, dass die zuständige Polizeibehörde versucht hat, ihr Versagen zu vertuschen und die Schuld auf die Toten und die Fans des FC Liverpool zu schieben. 164 Aussagen von Polizeibeamten waren nachträglich geändert worden, um den Verlauf des Geschehens in anderem Licht darzustellen: Die Polizei behauptete, dass es zur Katastrophe kam, weil viele Liverpool-Fans betrunken und gewaltbereit waren und überdies keine Tickets hatten. Zudem hätten sie die Rettungsarbeiten erschwert.

Schwere Fehler der Polizei

Im Boulevardblatt The Sun fanden die Fälscher willige Helfer. Vier Tage nach der Katastrophe meldete die Sun unter der Überschrift "Die Wahrheit" auf ihrer Titelseite, dass Liverpooler Fans die Toten bestohlen und auf sie uriniert hätten und dass sie zudem einen Polizisten zusammengeschlagen hätten, der Erste Hilfe leistete. Nichts davon, besagt der nun vorgelegte Report, entspricht der Wahrheit. Im Gegenteil: Die Fans halfen einander.

Stadionkatastrophe in England: Jede Blume, jeder Schal steht für einen getöteten Menschen. 1989 trauerten die Fans von Liverpool nach der Tragödie von Hillsborough.

Jede Blume, jeder Schal steht für einen getöteten Menschen. 1989 trauerten die Fans von Liverpool nach der Tragödie von Hillsborough.

(Foto: AP)

Als Hauptursache für die Katastrophe macht der Report die Arbeit der Polizei aus. Es sei den Behörden bekannt gewesen, dass das Stadion vollkommen ungeeignet für so viele Fans gewesen sei. Zudem habe die Polizei mehr und mehr Fans auf eine bereits völlig überfüllte Tribüne gelotst. Als klar wurde, wie gefährlich die Situation wurde, weigerte sich die Polizei zunächst, den Zugang zum Spielfeld zu erlauben, was den Druck aus dem betroffenen Block hätte nehmen können. Auch die Rettungsdienste haben ausweislich des Reports versagt. Und auch sie änderten in Nachhinein ihre Schilderungen des Geschehens, um von ihrer Schuld abzulenken.

Für Entsetzen sorgte am Mittwoch auch die Tatsache, dass der Pathologe damals alle Toten - auch die Kinder - auf Alkoholgehalt im Blut untersuchen ließ. Er tat dies, um die Behauptung der Polizei zu stützen, es habe sich um Besoffene gehandelt. Zudem hatte der Untersuchungsrichter damals verfügt, alle Toten wären durch das Erdrücken an traumatischer Erstickung gestorben, nach 15:15 Uhr sei es daher unmöglich gewesen, noch jemanden zu retten. Das sollte die zuständigen Einsatzkräfte von jeder Schuld befreien. Spätere Untersuchungen ergaben allerdings, dass 41 Menschen nach 15:15 Uhr einen Herzschlag hatten und demnach vielleicht hätten gerettet werden können.

Die neue Untersuchung kam zustande, weil 140.000 Menschen eine E-Petition an die Regierung unterzeichnet hatten. Premier David Cameron sagte, dass Generalstaatsanwalt Dominik Grieve den Report nun auswerten werde, um dann zu entscheiden, ob er am High Court eine neue Ermittlung in der Sache beantrage. Diese Entscheidung liegt nicht bei der Regierung.

Der Parlaments-Abgeordnete von Liverpool, Steve Rotheram, sprach am Mittwoch für seine Stadt, als er sagte: "Endlich kennen wir die Wahrheit: Viele unschuldige Menschen hätten gerettet werden können und gerettet werden müssen."

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