Süddeutsche Zeitung

Hamburg-Derby:Das Viertel leuchtet

Der FC St. Pauli gewinnt schon wieder die Hamburger Stadtmeisterschaft gegen den HSV. Angesichts der hervorragenden Rückrunde und des nun wieder starken Starts in die 2. Bundesliga muss der Klub bereits die Erwartungen managen.

Von Thomas Hürner, Hamburg

Der Ausnahmezustand gehört auf St. Pauli zum gewöhnlichen Erscheinungsbild. Das ganze Jahr über sind die Symbole des im Hamburger Stadtteil heimischen Fußballklubs zu sehen, an jeder Ecke kleben Sticker mit den ikonographischen Totenkopf-Logos, aus den Fenstern hängen Totenkopf-Fahnen, in jeder Kneipe hängen Wimpel, und der Kneipenbesitzer hat in der Regel mindestens ein Tattoo seines Herzensklubs an seinem meist voluminösen Körper.

An den Tagen vor einer Hamburger Stadtmeisterschaft potenziert sich das Ganze in einen elektrisierenden Kollektivgeist. Die Fahnen hängen dann sogar vor Apotheken, nahezu jeder Mensch trägt die Vereinsfarben Braun und Weiß am Leib - und wenn dieses bedeutsame Zweitliga-Duell gegen den HSV auch noch gewonnen wird, wie am Freitagabend im Millerntor-Stadion geschehen, legt sich ein Konfettiregen der Glückseligkeit über das Viertel. Dann knallt es, und zwar im wahrsten Sinne: Feuerwerke erleuchten den Himmel so hell, dass die Nacht bisweilen aussieht wie ein schrilles Ölgemälde.

Der HSV wirkte phasenweise nervös und fehleranfällig

"So stellt man sich ein Derby vor", sagte der St. Pauli-Coach Timo Schultz unmittelbar nach dem 3:2-Triumph über den Erzrivalen, der sich traditionsbedingt eigentlich als die Hegemonialmacht in der Stadt versteht. "Würde es gehen, würde ich's umarmen", fügte Schultz mit einem Grinsen hinzu, er meinte damit: eine Umarmung mit dem Spiel, das nach Ansicht führender Fanvertreter beider Lager wichtiger ist, als es eine hypothetische Aufstiegsfeier überhaupt sein könnte.

Das mag nach Folklore klingen und einer romantisierten Haltung gegenüber einem Sport, der in vielerlei Hinsicht längst seine Romantik verloren hat. Doch falls sich noch jemand gefragt hat, was in den eineinhalb Jahren ohne Fans gefehlt hat: Dieses Spiel dürfte die Antwort gewesen sein. Die Vorstellung begann, wie immer am Millerntor, mit AC/DC und den Glockenschlägen von "Hells Bells", die 10 000 zugelassenen Fans setzten das Dröhnen unablässig fort. "Kann sein", antwortete der HSV-Trainer Tim Walter auf die Frage, ob die Kulisse ein Faktor gewesen sei, der zur erkennbaren Nervosität und Fehleranfälligkeit seines Teams beigetragen habe. Die Anti-HSV-Stimmung auf St. Pauli dürfe aber "keine Ausrede" sein, betonte Walter: "Wenn alle gegen dich sind, alle gegen dich pfeifen, dann spornt mich das zu Höchstleistungen an - und das erhoffe ich mir auch von meinen Jungs." Zu diesem Zeitpunkt wussten die Trainer noch nichts von Auseinandersetzungen zwischen beiden Fanlagern, bei denen auch zwei Polizisten verletzt wurden.

St.-Pauli-Trainer Schultz setzt auf ein "ungewöhnliches" Sturmduo mit zwei Brechern

Für St. Pauli-Coach Schultz war die Atmosphäre im Stadion "absolute Gänsehaut" und "der entscheidende Tick hinten raus". Allerdings läge dem bescheidenen Übungsleiter auch nichts ferner, als sich selbst zum Erfolgsfaktor einer Partie zu erklären. In der Branche hat diese Einschätzung im Allgemeinen jedoch längst Einzug erhalten, denn es ist schon erstaunlich, was Schultz in etwas mehr als einem Jahr als oberster Glückseligkeitsbeauftragter auf dem Kiez erschaffen hat. Repräsentative Auszüge davon gab es auch am Freitag gegen den HSV zu sehen, zum Beispiel das fluide Umschaltspiel in einem 4-4-2-System mit Mittelfeldraute und zwei Sattelschleppern vorne drin.

Dieses Sturmduo, bestehend aus wuchtigen Typen wie Guido Burgstaller, 1,87 Meter, und dem Dänen Simon Makienok, der stolze 2,01 Meter misst, sei in der heutigen Zeit "schon ungewöhnlich", sagte Schultz - doch die einzelnen Komponenten fügen sich in ein schlüssiges Gesamtgebilde, das unberechenbar ist und einen entfesselten Fußball spielt. Mitte der ersten Halbzeit setzte die dominanteste Phase St. Paulis ein, in der erst einige Chancen ungenutzt blieben, ehe Burgstaller einen Doppelpass mit Spielmacher Daniel-Kofi Kyereh spielte, dem wohl begabtesten Kicker im Team. Am Ende der Kombination traf Mittelfeldmann Finn Ole Becker, ein paulianisches Eigengewächs, im gegnerischen Strafraum zur verdienten 1:0-Führung. Von da an hörte der Betonbau Millerntor nicht mehr auf zu beben.

Die Gästeelf wirkte davon sichtlich beeindruckt und war in der Folge "nicht präsent genug", wie auch HSV-Coach Walter einräumte, obwohl aus seiner Sicht auch ein ausgebliebener Elfmeterpfiff nach einem klaren Foul an Angreifer Backery Jatta zu beklagen war. Am Gesamtbild änderte aber auch der herrlich herausgespielte Ausgleichstreffer durch Mittelfeldmann Sonny Kittel kurz vor der Halbzeit nichts, weil St. Pauli mit der nötigen Schärfe und Intensität aus der Kabine kam - und sich durch einen Doppelschlag von Stürmer Makienok innerhalb von zwei Minuten ein Polster beschaffte, das trotz des 3:2-Anschlusstreffers von HSV-Stürmer Robert Glatzel nie wirklich wegzuschmelzen drohte.

"Unsere Erwartungen steigen nicht in irgendeinen Himmel" sagte St. Pauli-Präsident Göttlich

Der volltätowierte Makienok sei ein "positiv verrückter Typ", sagte St. Pauli-Coach Schultz, was neben dem Status als anerkannter Derby-Held die wohl größte aller Kiez-Auszeichnungen darstellt. Makienok ist aber nur einer von vielen Fußballern, die unter Schultz einen so gewaltigen Satz nach vorn gemacht haben, dass kaum jemand mehr von den ehemaligen Leihspielern Omar Marmoush und Rodrigo Zalazar spricht. Auch dank der beiden abgewanderten Offensivakteure war St. Pauli bereits in der Rückserie der vergangenen Saison das wohl spektakulärste Team der zweiten Liga gewesen - doch der FCSP-Sportdirektor Andreas Bornemann scheint mit seiner unaufgeregten Arbeit wieder eine Kiezmische bereitgestellt zu haben, die nachhaltig rütteln könnte an den Kräfteverhältnissen in der Hansestadt.

Mit dem Schlusspfiff zog sich der St. Pauli-Präsident Oke Göttlich jedenfalls ein Sakko über und freute sich über die "neue Spießigkeit" beim rebellischen Kiezklub, was er ausdrücklich als Qualitätsnachweis verstanden haben wollte. Wegen eines Derby-Sieges würden die Erwartungen aber "nicht in irgendeinen Himmel" steigen. Dabei blendete Göttlich womöglich aus, dass er die Macht des Faktischen auf seiner Seite gehabt hätte: nach vier Spieltagen hat der Kiezklub drei Punkte mehr eingesammelt als der HSV, von insgesamt sieben Zweitliga-Derbys ging bislang nur ein einziges verloren. Andererseits: viel Platz am Himmel gab es an diesem Abend ja nicht mehr - zumindest über dem leuchtenden Hamburger Stadtteil St. Pauli.

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