Hamburg-Duell in der Zweiten Liga:Es knallt im Viertel

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Beide Fanszenen zündeten Pyotechnik im Hamburger Millerntorstadion. (Foto: Marcus Brandt/dpa)

Der FC St. Pauli feiert beim 3:0 gegen den HSV den höchsten Derby-Sieg seit 62 Jahren. Nach einem umstrittenen Polizeieinsatz ist die Stimmung trotzdem gedämpft. Der Kiezklub stellt "die dringende Frage nach der Verhältnismäßigkeit".

Von Thomas Hürner, Hamburg

Auf St. Pauli herrscht immer eine Art Ausnahmezustand, weil das nun mal in der Natur des Viertels liegt. Es ist rau, es ist ehrlich, es ist unangepasst. Einmal im Jahr, so gibt es der Zweitliga-Kalender vor, knallt es auf St. Pauli besonders laut: Dann ist der Hamburger SV zu Gast, der allen Paulianern weiter als blasierter Vertreter der deutschen Fußball-Oberschicht gilt, obwohl er nun schon eine halbe Dekade lang im Unterhaus festhängt.

Am Freitag war es wieder so weit, FC St. Pauli gegen HSV, Underdog gegen Establishment. Wie so häufig gab es beim Hamburger-Stadtderby zwei Duelle, die ausgefochten wurden. Das erste Spiel, das auf dem Rasen, gewann St. Pauli 3:0. Verdient, wie man anmerken muss, wobei das in der Hansestadt niemanden mehr in Staunen versetzen dürfte. St. Pauli hat in den vergangenen Jahren eine große Stadtderby-Expertise angehäuft, die insbesondere darin besteht, dem einst so großen Rivalen sportliche Demütigungen zuzufügen. So auch dieses Mal.

Da war aber auch noch das Duell nach und vor dem Fußballspiel, das irgendwie auch zum Rahmenprogramm bei Hamburg-Derbys gehört. Vor dem Anpfiff hatten sich 3500 HSV-Fans von Altona zum Hamburger Millerntorstadion, der Heimstätte des FC St. Pauli, aufgemacht. Begleitet wurden sie, wie immer, von einem Großaufgebot der Polizei, dazu waren rund ums Viertel mehrere gepanzerte Spezialfahrzeuge postiert. Was wohl insinuieren sollte: Sicher ist sicher.

Der FC St. Pauli stellt nach dem Polizeieinsatz die Frage der Verhältnismäßigkeit

Dass so eindeutig zur Schau gestellte Staatsmacht aber nicht zwangsläufig nur deeskalierende Wirkung haben muss, darauf deuten Ereignisse hin, die sich vor dem Spiel am Freitag zutrugen und in Videoschnippseln in den sozialen Netzwerken geteilt wurden: Zu sehen sind Polizisten in dunkler Einsatzmontur, die einige St.-Pauli-Fans am Boden fixieren und auf sie einschlagen, in einem Fall mit dem Ellbogen auf den Kopf. Etwa 150 bis 200 mitunter maskierte St.-Pauli-Fans hatten zuvor, so gab es die Polizei an, versucht, an den HSV-Fanmarsch heranzurücken. Sicher nicht mit friedlichen Absichten. Die Anwendung von derart rabiaten Methoden werfe dennoch "die dringende Frage nach der Verhältnismäßigkeit" auf, wie das der FC St. Pauli in einem Kommuniqué formulierte. Die Verantwortlichen des Kiezklubs gaben sich am Freitag noch zurückhaltend und verwiesen auf die unklare Faktenlage.

"Diese Videos sehen nie schön aus", sagte Polizeisprecherin Sandra Levgrün der Deutschen-Presse-Agentur. "Aber das macht kein Kollege aus Spaß!" Es habe sich um eine "gezielte Aktion" der St.-Pauli-Fans gehandelt, so Levgrün. Durch den Polizeieinsatz sei verhindert worden, dass "die HSV-Fans massiv angegriffen wurden". Mehrere Augenzeugenberichte von St.-Pauli-Fans lassen aber Zweifel an der offiziellen Version der Polizei. Demnach hätten sich die Anhänger frühzeitig zurückgezogen, da der HSV-Fanmarsch von mehreren Hundertschaften abgeriegelt gewesen sei. Doch statt abzulassen, so die Version der St. Pauli-Fans, sei die Polizei in hohem Tempo angerückt und sehr aggressiv aufgetreten. Auch Einkesselungen einzelner Personen soll es gegeben haben. War auch eine für Polizeigewalt berüchtigte Einheit aus dem brandenburgischen Blumberg beteiligt am Einsatz? Der Verdacht steht zumindest im Raum. Die Hamburger Polizei teilte via Twitter mit, dass die Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Einsatzes geprüft werde. Mehrere St.-Pauli-Fans wurden am Freitag in Gewahrsam genommen.

Was im Detail vorgefallen ist und ob die harte Vorgehensweise der Beamten angesichts der Gefahrenlage legitim war, wird also noch zu klären sein. Worüber es hingegen wenig Zweifel gab: Die Kiezkicker sind, zumindest was die direkten Duelle betrifft, mittlerweile die klare Nummer eins der Stadt. Seit der HSV die zweite Liga mit seiner Anwesenheit beehrt, gewann St. Pauli fünf von neun Spielen - und das stets auf ähnliche Art: Die Paulianer waren auch am Freitag wieder gut auf das vorbereitet, was der HSV auf dem Rasen vorhatte. Sie zeigten Demut vor der Aufgabe, ohne zu viel Respekt vor dem Gegner zu haben. Und sie hatten in jeder Spielminute eine Menge Körpereinsatz dabei.

"Es ist ein unbeschreibliches Gefühl", jubiliert St.-Pauli-Coach Timo Schultz

"Wir haben unseren Plan umgesetzt und den Fans eine Show geboten", sagte der St. Pauli-Mittelfeldmann Jackson Irvine. Unter den 30 000 Zuschauern im Millerntorstadion dürfte nur eine Minderheit anderer Meinung gewesen sein, sie war sehr wahrscheinlich mit HSV-Fanutensilien bekleidet. Die Heimelf verteidige clever und robust in einer Fünferkette, die der St.-Pauli-Coach Timo Schultz extra fürs Derby eingeübt hatte, und sie lauerte auf Fehler wie jenen, den sich die HSV-Defensive nach nicht mal einer halben Stunde leistete. Ein hoher Ball der Paulianer genügte, um beim Gegner eine lange Fehlerkette in Gang zu setzen, an deren Ende der HSV-Kapitän Sebastian Schonlau ein plumpes Foul beging und wegen Notbremse des Feldes verwiesen wurde.

"Das war die spielentscheidende Szene", sagte der HSV-Coach Tim Walter. Und er hatte sehr Recht damit: Abgesehen von einer viertelstündigen Drangphase brachte der HSV danach wenig zustande. Die Kiezkicker legten sich den ermatteten Gegner sorgsam zurecht und gingen erst nach einem Kopfballtreffer von Eric Smith (61.) in Führung, ehe Marcel Hartel (74.) und David Otto (89.) mit ihren Toren für den 3:0-Endstand und damit für die klarsten innerstädtischen Verhältnisse seit 62 Jahren sorgten. "Heute war einfach von A bis Z alles gut von uns", jubilierte der St.-Pauli-Coach Timo Schultz: "Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, nach dem Spiel mit den Fans zusammen den Derbysieg zu feiern."

In der Tat, für alle Paulianer wäre das ein guter Tag zum Feiern gewesen. Auf der Hamburger Reeperbahn, üblicherweise der Ort für Derby-Festlichkeiten, war die Stimmung in der Nacht dennoch eher gedrückt und reserviert. Ein Grund: Noch zu später Stunde waren dort in etwa so viele Polizeikräfte wie Fans unterwegs.

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