Beim FC St. Pauli können sie von sich behaupten, dass sie zumindest musikalisch mit jedem Bundesliga-Konkurrenten locker mithalten können. Als gute Gastgeber intonieren sie vor Anpfiff die Vereinshymne jedes Gegners, während des Einlaufens der Mannschaften dröhnen AC/DC mit „Hells Bells“ durchs Hamburger Millerntorstadion, und der Halbzeitsound „Antifa Hooligans“ versprüht einen authentisch-punkigen Charme. Unter Fans besonders beliebt sind das Gejohle und die Gitarrenriffs im „Song 2“ von Blur. Als Torhymne ist dieses Lied allerdings auch in dieser Saison scharfen Restriktionen ausgesetzt. Es schallt, na klar, eben nur dann durchs Viertel, wenn die Heimelf einen Treffer erzielt. Und das kam bis zum Freitagabend exakt null Mal vor.
In dieser Sache könne man nun ja „ein Häkchen dran machen“, erläuterte St. Paulis Coach Alexander Blessin und machte durch Mimik klar, dass er nicht nur von der eigenen Torflaute genervt war. Sondern vor allem von den Debatten darüber. Zu Blessins Zufriedenheit konnten jedenfalls weitere Häkchen auf der paulianischen To-do-Liste gesetzt werden: Sage und schreibe drei (Achtung, Wortspiel!) Millern-Tore erzielten die Kiezkicker gegen Holstein Kiel, Endergebnis 3:1. Der Vorsprung auf den Mit-Aufsteiger wurde somit auf vergleichsweise komfortable sechs Punkte erhöht. Und auch die Urheberschaft der Treffer enthielt eine aus St.-Pauli-Sicht erbauliche Botschaft: Nachdem der fleißige griechische Verteidiger Manolis Saliakas mit einem strammen Schuss den Bann gebrochen hatte (25. Minute), konnten die Stürmer Morgan Guilavogui (56.) und Johannes Eggestein (85.) ihre Torpremieren in dieser Saison vermelden, wobei Eggestein die ersten beiden Treffer zuvor aufgelegt hatte. Eingeleitet wurden die Offensivaktionen durch Dribblings und Ideen ihres Angreiferkollegen Oladapo Afolayan.
Doch was zunächst rauschhaft-aufregend klingt, war ein eher handelsübliches Fußballspiel, das mutmaßlich zahlreiche blaue Flecken auf den Schienbeinen der Protagonisten hinterließ – und das nur wenige Spannungsmomente aus sich selbst heraus erzeugen konnte. Ausnahmen: St.-Pauli-Torwart Nikola Vasilj, der im Strafraum zunächst recht unbedarft einen Kieler Spieler zu Fall brachte, den fälligen Elfmeter von Fiete Arp jedoch parierte (45.). Sowie Schiedsrichter Felix Zwayer, der dem Kiezklub nach einem Tritt an Abwehrmann Hauke Wahl einen Elfmeter verweigerte und sich die Szene nicht nochmal ansehen wollte. „Ich schlucke das mal“, sagte Blessin, obwohl er mit Blick auf diese Entscheidung durchaus inhaltliche Einwände vorzutragen hatte. St. Paulis Trainer wollte sich dahingehend aber nicht länger als nötig um Deutungshoheit bemühen. Wichtiger erschien es ihm, sein offensives Dreiergespann zu loben („haben sich alle belohnt“), den enormen Arbeitseifer seines Teams zu unterstreichen („100-prozentige Leistung“) sowie seine Gefühlswelt zu offenbaren („überglücklich“).
Holstein-Trainer Marcel Rapp vermisst bei seinem Team einmal mehr die „fußballerische Durchschlagskraft“
Blessin war allerdings nicht der einzige Trainer, der realitätsgetreue Ableitungen aus diesem Spiel anstellte. Denn dasselbe galt auch für den Kieler Marcel Rapp, ein Kumpel Blessins, mit dem er früher gemeinsam beim SC Pfullendorf in der Regionalliga Süd kickte. Rapp erklärte: „Wir waren intensiv, sind gelaufen – ich muss aber einräumen, dass wir fußballerisch nicht die nötige Durchschlagskraft hatten.“
Die 90 Minuten dokumentierten noch einmal in anschaulichen Bildern, dass die St. Paulianer in der Lage sind, Gegner verschiedenster Bauart wenigstens herausfordern zu können, wenn sich die Spieler an Blessins Defensivvorgaben halten und vorne ein wenig ins Wirbeln kommen. Die Kieler dagegen wirkten zuletzt zunehmend überfordert. Ihnen gebricht es dabei nicht an einem schlüssigen Plan, denn auch der Trainer Rapp ist ein in der Branche anerkannter Tüftler. Ihnen scheint schlichtweg jene Qualität zu fehlen, die es braucht, um diese Pläne dann auch in die Praxis zu überführen. Die „Störche“ kassieren im Schnitt 2,6 Gegentreffer pro Spiel und bekamen am Freitag von einigen der mitgereisten Fans deren Unmut mitgeteilt. In der Kieler Lokalpresse werden Stilkritiken und Forderungen nach Winter-Zugängen immer deutlicher niedergeschrieben – eine Parallele zur Gemengelage beim Kiezklub, der allerdings mit einer strapazierfähigeren Substanz ins Oberhaus eingezogen ist.
Dennoch handelte es sich um eine seltene Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet ein Duell zwischen diesen beiden Klubs am Konsumrauschtag Black Friday angesetzt worden war. Denn zuletzt konnte man deren Sportchefs, St. Paulis Andreas Bornemann und Kiels Carsten Wehlmann, immer wieder dabei zuhören, wie sie die zutiefst deutsche Lust nach Schuldenbremsen und schwarzen Nullen bedienten: Investitionen ja, aber bitte nur mit Bedacht, argumentieren die Sparmeister Bornemann und Wehlmann. Beide vermieden im vergangenen Transfersommer nahezu jedes Risiko, für neue Spieler wurde jeweils wenig bis gar kein Geld ausgegeben. Nach Kiels rabenschwarzem Freitag muss vorläufig festgehalten werden: Ein strikter Haushaltsplan ist noch lange kein Wert an sich.