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SSC Neapel: Verteidiger Paolo Cannavaro:"Die Stadt spielt mit"

Mit dem SSC Neapel trifft Paolo Cannavaro in der Champions League auf den FC Bayern München. Wie sein Großvater, sein Vater und sein Bruder Fabio ist auch er ein Verteidiger und stammt aus Neapel. Im Gespräch mit der SZ erklärt er die Bedeutung des SSC Neapel, wie es sich anfühlt, überall Heimspiele zu haben - und warum er Bastian Schweinsteiger bewundert.

Birgit Schönau

Paolo Cannavaro ist 30 Jahre alt und damit acht Jahre jünger als sein Bruder Fabio, der acht Zentimeter kleinere italienische Rekordnationalspieler und Weltmeister von 2006. Beide sind Innenverteidiger und haben beim FC Parma zeitweise in derselben Mannschaft gespielt. Zuvor debütierte Paolo Cannavaro 1998 mit 17 Jahren in der 1. Mannschaft des SSC Neapel. 2006 kehrte er nach Neapel zurück, 2007 erfolgte der Aufstieg in die Serie A. Seit 2009 ist der Neapolitaner Cannavaro der Kapitän im einzigen Profiklub seiner Heimatstadt. In der vergangenen Saison erreichte der SSC Neapel den dritten Platz und damit die Teilnahme an der Champions League. Obwohl Cannavaro mittlerweile als einer der besten Abwehrspieler Italiens gilt, hatte er noch keinen Einsatz in der Nationalelf.

SZ: Viele Grüße von Gigi Scapitti.

Cannavaro:Professore Scapitti, mein alter Sportlehrer, danke! Der hat mir wirklich beigebracht, worum es beim Fußballspielen geht. Woher kennen Sie ihn denn? Die Schule gibt es doch gar nicht mehr.

SZ: Der Taxifahrer hat ihn angerufen, als er hörte, dass ich Sie treffe.

Cannavaro: Das ist Neapel. Manchmal habe ich das Gefühl, durch diese Stadt laufen unsichtbare Fäden, die alle miteinander verknüpfen.

SZ: Als der SSC Neapel 1990 zuletzt im Europapokal der Landesmeister spielte, waren Sie neun Jahre alt. Können Sie sich noch an Diego Armando Maradona erinnern?

Cannavaro: Natürlich, mein Sonntag war das Stadion! Ich ließ kein Heimspiel aus, zum Mittagessen gab's ein Stück Pizza, zusammengefaltet wie ein Taschentuch, und los ging's mit meinen Freunden. Wir gingen zu Fuß, fünf Minuten, denn ich wohnte ganz in der Nähe des Stadions, im Rione La Loggetta, einem Arbeiterviertel. Es gab eine Zeit, da war ich Balljunge im San Paolo, genau wie vorher mein großer Bruder Fabio. Und damals spielte Maradona, klar. Aber präzise Erinnerungen an den Landesmeister-Pokal habe ich jetzt nicht.

SZ: Das Stadio San Paolo befindet sich mitten in der Stadt.

Cannavaro: Da gehört es auch hin. Das Stadion ist das Herz unserer Stadt. Für uns Neapolitaner kommt zuerst der Fußball, dann der Rest.

SZ: Was bedeutet die Champions League für Neapel?

Cannavaro: Ganz einfach: alles. Am Abend des ersten Champions-League-Spiels in Manchester City war die Stadt wie ausgestorben, es fand bereits um 18 Uhr kein öffentliches Leben mehr statt. Und wenn wir zu Hause antreten, ist das Stadion vier Stunden vor Anpfiff voll. Die Stadt spielt mit. Wir vergessen mit dem Fußball wirklich unsere Probleme. Es ist immer eine besondere Genugtuung, wenn Napoli gegen Mannschaften des Nordens gewinnt: Der arme Süden schlägt den reichen Norden.

SZ: Dabei könnte man doch das Gefühl haben, der SSC habe überall nur Heimspiele.

Cannavaro: Oh ja, Neapolitaner sind überall. Sogar in Manchester, in Mailand sowieso. Auch in München erwarte ich, beim Rückspiel am 2. November, viele himmelblaue Tupfen auf den Rängen. Für die Neapolitaner im Ausland ist es so: Wenn der SSC spielt, fühlen sie sich in diesem Moment wie zu Hause. Ich glaube, es gibt keinen anderen europäischen Fußballklub, der bei jedem Auswärtsspiel 5000, manchmal sogar 10 000 Anhänger hat.

SZ: Als Sie 2006 aus Parma zurückkehrten, spielten Sie zunächst in der zweiten Liga.

Cannavaro: Ja, Napoli war damals gerade aus der dritten Liga aufgestiegen, und der Klub hatte nach der Pleite 2004 wieder seinen alten Namen angenommen. Man verstand schon, dass es sich um ein ernsthaftes Projekt handelte, deshalb bin ich auch zurückgekommen. Ein Jahr später hatten wir es tatsächlich geschafft und stiegen auf in die Serie A.

SZ: Vier Jahre erste Liga und jetzt die Champions League. Was steht dahinter?

Cannavaro: Jetzt wollen sie plötzlich alle nach Neapel, auf einmal sind wir die attraktivste Mannschaft in Italien. Aber es liegen wirklich schwere Jahre hinter uns, in denen wir extrem viel gearbeitet haben, Geduld haben mussten, es gewisse Entbehrungen gab.

SZ: Noch im vergangenen Jahr ging das Gerücht um, dass einige Profis ein Angebot aus Neapel wegen der anhaltenden Müllkrise ausgeschlagen hätten.

Cannavaro: Ob es daran lag, weiß ich nicht. Aber es stimmt: Es hagelte Absagen. Neapel hatte einfach keinen guten Ruf. Dabei ist die Klubleitung nicht erst seit gestern extrem zielstrebig. Hier wird eine gute Transferpolitik gemacht, und es wird nachhaltig gearbeitet, was im italienischen Fußball ja eher die Ausnahme ist. Sehen wir uns Barcelona an: Die hatten auch Durststrecken und konzentrierten sich doch auf ihre Jugendarbeit, auch auf Spieler, die noch gar nicht berühmt waren. Jetzt haben sie lauter Fußballer, die unverkäufliche Weltstars sind. Eigentlich müsste das ein Modell für alle sein. Aber der italienische Fußball hat keine Geduld. Immer noch nicht.

SZ: Sie selbst haben in der Jugendmannschaft des SSC angefangen.

Cannavaro: Damals habe ich zum ersten Mal auf richtigem Rasen gespielt. Vorher gab es nur terra battuta. Die nackte Erde, wahnsinnig hart und unglaublich staubig.

SZ: Immer Verteidiger?

Cannavaro: Ja, was denn sonst? Mein Großvater war Verteidiger, mein Vater war Verteidiger, mein Bruder war Verteidiger. Keine Chance, was anderes auszuprobieren, meine Familie hat nie etwas anderes als Abwehrleute produziert! Meine große Schwester spielte übrigens auch, die war sogar besser als wir, die hätte uns glatt an die Wand gespielt. Da gab's noch keinen Frauenfußball, Gott sei Dank.

SZ: Und Ihre Kinder?

Cannavaro: Als ich meine beiden Söhne erstmals zur Fußballschule gebracht habe, sagte ich dem Trainer: Wenn du es wagst, auch diese Cannavaros hinten rein zu stellen, siehst du sie nie wieder! Na ja, es war nicht ganz ernst gemeint.

SZ: Die viel gerühmte italienische Abwehrschule erlebt ganz offensichtlich eine Krise. Sieht so aus, als könnte sie gute Nachwuchskräfte dringend gebrauchen.

Cannavaro: Ein Abwehrspieler hat dreimal so viel Verantwortung wie einer im Mittelfeld oder gar im Sturm, so war das immer. Es hat sich jedoch Grundlegendes geändert in der Abwehrarbeit, natürlich auch in Italien. Heute ist der Verteidiger ein aktiver Spielgestalter, ich würde sogar sagen: der erste. Früher konnte man ganze Spiele bestreiten ohne ein einziges Mal den Ball zu berühren, das ist endgültig vorbei.

SZ: Welchen Bayern-Spieler fürchten Sie denn besonders?

Cannavaro: Ich fürchte und bewundere Sweens-teeger . . . Wie spricht man den aus?

SZ: Schweinsteiger.

Cannavaro: Unmöglicher Name. Aber toller Spieler. Kraft, Technik, Persönlichkeit, alles. Den bewundere ich wirklich schon lange. Ich kann es kaum erwarten, gegen ihn zu spielen. Also, ich sehe ja nicht viele Fußballspiele, Fußball im Fernsehen interessiert mich nicht so. Aber den schaue ich mir an. Dieser Mann ist Fußball. Der hat alles.

SZ: Ihr Bruder Fabio Cannavaro, Weltmeister und Fifa-Weltfußballer 2006, leistet in Neapel auch ehrenamtliche Arbeit.

Cannavaro: Fabio und sein ehemaliger Teamgefährte Ciro Ferrara haben eine Stiftung für Scampia ins Leben gerufen. Das ist ein Stadtviertel an der Peripherie, das sich selbst überlassen ist.

SZ: Dort herrscht die Stadtmafia Camorra.

Cannavaro: So ist es. Die Stiftung meines Bruders unterstützt dort und in anderen Problemvierteln die Jugendarbeit. Dabei ist auch der Fußball ganz wichtig. Denn Fußball vermittelt den Jugendlichen, dass Regeln wichtig sind, ohne Regeln funktioniert kein Spiel. Und wer Fußball in einer Mannschaft spielt, übernimmt Verantwortung. Er lässt sich nicht von anderen, gefährlichen Dingen ablenken. Überhaupt: Zusammen zu spielen, ein gemeinsames Projekt zu haben, das ist nicht wenig. Sich auf der Straße herumzutreiben, bedeutet in Neapel eine Vielfalt von Verführungen und Gefahren. Leider gibt es immer noch viel zu wenig Fußballplätze hier.

SZ: Sie sind in Neapel aufgewachsen und haben die Stadt nur für wenige Jahre verlassen. Wo wohnen Sie jetzt?

Cannavaro: Auf dem Posillipo-Hügel. Gerade habe ich eine neue Wohnung erworben, von dort aus sieht man das Meer, die Inseln Ischia und Procida. Bei Sonnenuntergang der schönste Platz der Welt.

SZ: Ihr Bruder Fabio lebt jetzt in Dubai. Er hat seine aktive Karriere beendet und arbeitet als Berater für den Klub Al-Ahli. Würden Sie auch zum Ende Ihrer Karriere in die Wüste gehen?

Cannavaro: Für die Lebenserfahrung ist das Ausland immer interessant. Aber Fabio ist nach Dubai gegangen, als er in Europa schon alles gewonnen hatte, er ist ja dann mit Real Madrid auch noch spanischer Meister geworden. Ich habe ihn oft besucht: Dubai ist ein fantastischer Ort. Aber alles dort ist neu, auch der Fußball fängt gerade an, viel Publikum haben die noch nicht. Irgendwie hat das da alles mit der Realität nicht so viel zu tun. Sagen wir also: Ich bleibe wirklich lieber hier.

SZ: Über einen Mangel an Bodenhaftung können Sie sich nicht beklagen.

Cannavaro: Das kann man wohl sagen. Die Neapolitaner sind sehr leidenschaftlich, denen kannst du nicht entkommen. Wenn sie einen von uns auf der Straße sehen, dann gehen sie nicht einfach weiter. Als wir noch mitten in der Stadt trainierten, auf dem Campo Paradiso, das war die Hölle. Leute, die an den Netzen hochkletterten, die sich zu uns auf den Platz werfen wollten, die Menschenmenge, die draußen auf uns wartete. Dabei waren wir in der zweiten Liga! Ich finde das ja gar nicht tragisch, ich bin schließlich von hier. Allerdings: Gemeinsam mit meinen Kindern gehe ich selten aus.

SZ: Wissen Ihre Kinder, dass Sie in Ihrer Heimatstadt so berühmt sind?

Cannavaro: Das bekommen sie schon mit, das kann man nicht vermeiden. Aber ich treibe sie nicht zum Fußball. Wenn sie spielen wollen, gut, aber ich bestehe lieber nicht darauf. Denn in dieser Stadt werden sie immer die Söhne von Paolo Cannavaro bleiben. So wie ich lange Zeit der kleine Bruder von Fabio Cannavaro geblieben bin. Ich kenne dieses Gefühl.

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Quelle:
SZ vom 18.10.2011/thob
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