Sprinter Yohan Blake fordert Usain Bolt:Wenn Erfahrung und Showtalent fehlen

Es ist der Höhepunkt am Sonntagabend: Wenn der seriöse Yohan Blake und der charismatische Usain Bolt um den 100-Meter-Titel streiten, ist es auch das Duell zweier ungleicher Trainingspartner. Dabei ist es ein bisschen ungerecht, Blake mit seinem älteren Landsmann zu vergleichen.

Thomas Hahn, London

Es ist jetzt eine Ernsthaftigkeit im Raum, die ganz weit weg zu sein scheint von Londons heiteren Spielen. Denn für den 100-Meter-Weltmeister Yohan Blake aus St. James in Jamaika ist es kein kleines Ding, bei der Pressekonferenz seines Ausrüsters zu sein und Fragen zu beantworten. Er hat flüchtig gewinkt, als er die Bühne betrat. Er sitzt aufrecht auf seinem Hocker, er hält sich am Mikrofon fest, und er antwortet in schnellen, entschlossenen Sätzen.

Yohan Blake, 22, hat eine Woche vor sich, die sein Leben verändern kann, da bringt er jetzt einfach keinen unverbindlichen Plauderton hin. Fast klingt es wie eine Beschwerde, als er, der Olympia-Debütant, über den Wert der Routine sagt: "Für mich funktioniert Erfahrung nicht. Alle reden immer über Erfahrung. Für mich geht es darum, raus zu gehen, sich zu konzentrieren und den Job zu machen." Usain Bolt hätte bestimmt lässiger gesprochen.

Das Olympiastadion in Stratford hat sich verändert, seit dort am vergangenen Freitag die Eröffnungsfeier der Spiele stattgefunden hat. Die Bühne, deren Aufbau drei Monate gebraucht hatte, ist verschwunden nach umfassenden Aufräumarbeiten, in deren Verlauf das Personal unter anderem 320 Krankenhausbetten, sieben Schornsteine und einen Bauernhof wegschaffte. Das Olympische Feuer, das am Ende der Feier in der Mitte der Arena brannte, hat einen Platz in der Kurve schräg gegenüber der Ziellinie bekommen. Laufbahn und Innenfeld sind frei für die Leichtathleten, deren Programm an diesem Wochenende Fahrt aufnimmt.

Elf Entscheidungen sind avisiert, mit einem einsamen Höhepunkt. Das 100-Meter-Finale der Männer (Sonntag, 22.50 Uhr MESZ/ ZDF und Eurosport) zieht traditionell viel Interesse auf sich. Erst recht diesmal. So viele Leute mit Fabelzeiten sind am Start, dass es der höchstwertige Endlauf der Geschichte werden könnte, und vorneweg erwartet die Fachwelt zwei ungleiche Trainingspartner: Bolt und Blake.

Es ist ein bisschen ungerecht, Blake ständig mit seinem älteren Landsmann zu vergleichen. Usain Bolt, 25, hat schließlich einen Status in der Sportwelt, den so leicht niemand erreichen kann. Das hat nicht nur mit den sportlichen Leistungen des dreifachen Olympiasiegers von 2008 und fünfmaligen Weltmeisters zu tun; Bolts Weltrekorde - die 9,58 Sekunden über 100 Meter, die 19,19 über 200 und 37,04 mit der 4x100-Meter-Staffel Jamaikas - erregen oft sogar eher Verdacht als Wohlwollen.

Seine Aura macht Bolt zu einem Champion, der die Begehrlichkeiten von Wirtschaft und Veranstaltern in besonderem Maße weckt. Bolt kann ein volles Stadion mit wenigen Gesten in Wallung bringen, seine seltsame Sterndeuter-Bewegung ist längst ein weltweit bekanntes Markenzeichen. Blake hingegen ist ein seriöser Sportler. Ob er Showtalent besitzt, ist fraglich.

"Wir werden immer Freunde bleiben"

Gut möglich, dass viele Leichtathletik-Vermarkter es deshalb gar nicht so gerne sähen, wenn Blake seinen Erfolg von den jamaikanischen Meisterschaften wiederholte würde und Bolt sowohl über 100 als auch über 200 Meter hinter sich ließe. Aber darauf kann Blake keine Rücksicht nehmen. Seit geraumer Zeit ist schon von seinem Talent die Rede. Deshalb fiel Leichtathletik-Beobachtern auch auf, dass er zu einer Gruppe jamaikanischer Sprinter gehörte, die Ende Juni 2009 positiv auf das Stimulanzmittel 4-Methyl-2-Hexanamin getestet wurden; die Affäre endete mit einer dreimonatigen Sperre für Blake. 2011 war sein erstes großes Jahr, wobei er seinen WM-Titel nicht gegen Bolt gewinnen musste, der im Finale von Daegu einen Fehlstart fabrizierte, und auch nicht gegen den verletzten Ex-Weltrekordler Asafa Powell.

Aber spätestens seit Blake im vergangenen September in Brüssel die 200 Meter in 19,26 Sekunden zurückgelegt hatte, war klar: Blake kann Bolt folgen. Derzeit hält er die Weltjahresbestzeiten über 100 (9,75 Sekunden) und 200 Meter (19,80). So gesehen ist Blake der Favorit. Der sagt streng: "Ja, ich bin der schnellste Mann der Welt. Ich bin der Mann, den man schlagen muss. Aber wenn du an der Linie stehst, ist es anders. Am Renntag werden wir es sehen."

Bolt. Blake. Die Beziehung der beiden ist spannend, und ihr Coach Glen Mills wird ein kluger Moderator sein müssen, damit die beiden nicht Energie an ihre Rivalität verlieren. In dieser Saison hat Mills sie getrennt auf Reisen geschickt. Bolt tourte durch Europa, Blake im amerikanischen Raum. Bolt und Blake sind sehr unterschiedlich. Nicht nur weil der 1,96-Meter-Mann Bolt 16 Zentimeter größer ist als Blake. Bolt ist ein Party-Junge, Blake gilt als harter Arbeiter. So gerne trainiert er, dass Bolt ihn "das Tier" nennt. Sie selbst behaupten, zwischen sie passe kein Blatt Papier. "Wir werden immer Freunde und Teamkameraden bleiben", wird Bolt im Guardian zitiert. Blake sagt: "Ich versuche, keine Rivalität draus zu machen. Am Ende ist es ja doch nur ein Rennen."

Weise gesprochen, und wenn das alles die Wahrheit ist, könnten Blake und Bolt ein Beispiel dafür geben, was echte Freundschaft ausmacht. Aber ist es die Wahrheit? Usain Bolt klingt etwas väterlich, wenn er über Blake spricht. Er hat gesagt, dass er den Amerikaner Tyson Gay, den Dreifach-Weltmeister von 2007, für den gefährlicheren Gegner halt, weil der die Routine habe, die Blake fehle. "Ich würde nicht sagen, dass mangelnde Erfahrung ein großer Faktor ist", sagt Bolt, "aber es wird eine Rolle spielen." Da dürfte Yohan Blake die Augen verdrehen. Erfahrung, Erfahrung. Er glaubt ganz fest daran, dass er die nicht braucht.

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