Süddeutsche Zeitung

100 Meter bei Olympia:Ein Italiener? Ein Italiener!

Der Nachfolger von Usain Bolt kommt nicht aus den USA, sondern überraschend aus Rom: Lamont Marcell Jacobs ist der neue olympische Sprintkönig. Dabei wollte er eigentlich Basketballer werden.

Von Saskia Aleythe, Tokio

Gleich hebt er ab. Die Arme beim Laufen ausgebreitet wie ein Vogel, der zum Flug ansetzt. 20 Meter vor der Ziellinie, das macht man eigentlich nicht als Sprinter - so eine Flügelhaltung bremst aus. Doch Usain Bolt war sich seiner Sache sicher im 100-Meter-Finale 2008, mit offenem Schnürsenkel und angeblich einem Dutzend Hähnchenflügel im Magen. Weltrekord im Spaziergang, Olympiasieg dazu, die eine Errungenschaft größer als die andere. 13 Jahre nach seinem ersten Spiele-Streich wurde nun sein Nachfolger in Tokio gecastet, und die Schärpe des schnellsten Sprinters der Spiele übernahm ... ein Italiener.

Ein Italiener? Ein Italiener.

Lamont Marcell Jacobs hob nicht von der Bahn ab, er schielte nur einmal zur Seite, ob er wirklich der Erste sein sollte, der die Ziellinie passierte. Bei 9,80 Sekunden blieb die Uhr stehen, Jacobs trudelte beim Auslaufen gleich in die Arme von Gianmarco Tamberi. Der Hochspringer war Sekunden vor dem 100-Meter-Finale gemeinsam mit Katars Mutaz Essa Barshim Olympiasieger im Hochsprung geworden - er hatte sich gerade die Fahne umgeschwungen und wollte die Stadionrunde drehen. Dann ging das Licht aus. Die aufgewühlten Kollegen buhten. Die Show für die Sprinter startete, die 100 Meter werden auch freilich auch nach der Bolt-Ära als Höhepunkt der Leichtathleten inszeniert.

Und an diesem Tag in Tokio kehrte nach 13 Jahren die Spannung zurück.

Lichtschalter aus, auf die Bahn wurden die Namen der Starter projiziert, Lichtschalter an, im Olympiastadion in Tokio wird auch ohne Zuschauer auf den Rängen etwas fürs Fernsehen geboten. Und bei der Vorstellung der Finalisten sah man einen bunten Haufen an Sprintern, von denen keiner als Favorit gelten konnte. Doha-Weltmeister Christian Coleman (USA) fehlte ja ohnehin wegen zu oft verpasster Dopingkontrollen, Kollege Justin Gatlin wäre zwar mit 39 Jahren gerne nochmal Olympiasieger geworden - nach seinem Titel 2004 in Athen -, doch der mehrfache Dopingsünder wurde in den amerikanischen Meisterschaften schlicht überboten.

Usain Bolt selber tippte im Vorfeld auf Trayvon Bromell als seinen Nachfolger, doch der US-Amerikaner war gar nicht erst im Endlauf angekommen. Der 26-Jährige hatte Anfang Juni mit der besten Zeit des Jahres - 9,77 Sekunden - eine ambitionierte Bewerbung für den Bolt-Posten abgegeben, er musste aber in Tokio feststellen, dass einen das Bewerbungsgespräch vor Ort doch noch aus den Socken hauen kann. Seine Halbfinalzeit von 10,00 Sekunden wurde in kleinste Stückchen zerhäckselt, der Computer fand schließlich heraus, dass Nigerias Enoch Olaoluwa Adegoke als Neunter 0,001 Sekunden vor ihm durchs Ziel gehuscht war.

Zehn Sekunden sind wenig Zeit, um eine Disziplin so zu dominieren, wie Bolt es über ein Jahrzehnt lang geschafft hat. Die Siegerposen packte er schon aus, als auf den Nebenbahnen noch verbissen um Silber und Bronze gekämpft wurde - 2016 in Rio drehte er frech den Kopf zur Kamera und grinste, unterwegs zu Gold. Ein unheimliches Vergnügen und eines, das er exklusiv genießen konnte, in Tokio entwickelte sich ein enges Rennen unter recht ebenbürtigen Gegnern. Der Brite Zharnel Hughes verursachte einen Fehlstart und wurde disqualifiziert. Im zweiten Versuch, den neuen Sprintkönig zu finden, kam Fred Kerley (USA) am besten aus dem Startblock. Nach 30 Metern führte er mit einer Nasenspitze vor Teamkollege Ronnie Baker, Enoch Adegoke hatte Platz drei im Visier. Doch je näher die Ziellinie kam, desto mehr packte Jacobs von hinten den Turbo aus. Adegoke humpelte das Rennen verletzt zu Ende.

Bei Usain Bolt ist sich die Fachwelt nie einig geworden, ob seine Größe von 1,95 Metern Vor- oder Nachteil für seine Geschwindigkeit war, was sich dagegen mit bloßem Auge feststellen ließ: Der beste Starter war er nicht. Oft bewegte er sich wie ein Spielzeugauto zum Aufziehen über die Bahn: Lahmer Beginn, starke Beschleunigung, Austrudeln beim Finish. Im Endspurt in Tokio machten schließlich Jacobs und der Kanadier Andre De Grasse die beste Figur, während bei den Amerikanern die Kräfte nachließen. Kerley schnappte sich in 9,84 Sekunden Silber vor De Grasse (9,89). Und dann dauerte es Minuten, bis Jacobs begriff, auf welchen Thron er gerade gespurtet war. Der 26-Jährige hockte sich hin und fasste sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel. Er verdrückte Tränen.

Und wie es sich für einen Italiener gehört, dankte er zuerst seiner Familie, "meinen Kindern Anthony und Jeremy und meiner Mutter, die seit meiner Kindheit mein größter Fan ist". Er sei so hart gerannt wie er konnte, sagte er, die Zehn-Sekunden-Schallmauer konnte er in diesem Jahr zum ersten Mal durchbrechen. Eigentlich wollte er Basketballer werden. "Ich wusste wirklich nichts über ihn", sagte Silber-Gewinner Kerley über Jacobs, der Italiener hatte in Tokio sein erstes großes Finale bestritten. Seine 9,80 Sekunden waren Europarekord und - natürlich - der erste Olympiasieg für Italien über 100 Meter. "Ein Kindheitstraum wird wahr", sagte Jacobs noch, "ich kann es kaum erwarten, morgen die Hymne zu hören."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5370133
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/sjo
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.