Leichtathletik:Zu schnell, um Fußball zu spielen

Leichtathletik - DM

Deniz Almas könnte jetzt sogar an einen Einzelstart bei Olympia denken - erstmal bestätigte er in Braunschweig seine starke Form

(Foto: dpa)

Deniz Almas belebt mit einer Zeit von 10,09 Sekunden den deutschen Sprint und prophezeit seiner Generation "eine goldene Zukunft". Beflügelt hat ihn ausgerechnet der Teamgedanke.

Von Johannes Knuth, Braunschweig

Deniz Almas wurde erst am Ende ausgebremst. Der 23-Jährige näherte sich gerade forsch den Reportern hinter dem Braunschweiger Stadion, die die Antrittsrede des neuen deutschen Meisters über 100 Meter erwarteten, als ein Aufseher beherzt dazwischen hechtete: Auch in der Mixed Zone galt strenger Sicherheitsabstand, wie überall im Stadion, das wegen der Corona-Vorschriften nur 999 Anwesende beherbergen durfte. Aber Almas, so viel Nachsicht musste sein, ging seiner Arbeit am Wochenende nun mal ohne Berührungsängste nach.

Er hatte zuvor weder Scheu vor gewichtigen Prädikaten gehabt, mit denen ihn die Stadionregie beworben hatte ("die neue Sprintsensation!"), noch vor seinen Mitbewerbern oder den eigenen, steilen Ambitionen. An diesem verflixt schnellen 23-Jährigen vom VfL Wolfsburg war in Braunschweig kein Vorbeikommen gewesen, in dieser Hinsicht hatte er das Sicherheitsprotokoll vorbildlich befolgt. Almas hatte die Konkurrenz stets auf Distanz gehalten.

Und wie.

Bis zum Samstagabend waren die 120. deutschen Leichtathletik-Meisterschaften eine etwas zähe Affäre gewesen Die 100 Meter der Männer lieferten dann allerdings den Nachweis, dass eine globale Seuche nicht zwingend starke Darbietungen verhindert: Almas gewann in 10,09 Sekunden, vor dem 21 Jahre alten Joshua Hartmann (10,23) und Julian Reus, 32, der 10,26 Sekunden benötigte. Der neue Titelinhaber war Anfang August schon in 10,08 Sekunden über die Sprintautobahn in Weinheim gerauscht, aber Weinheim, das betonte er nun, habe "immer ein Gschmäckle": Die harte, schnelle Bahn und der Rückenwind tragen Athleten schon mal zu Zeiten, die oft gar nicht richtig in ihnen stecken.

In Braunschweig war das Geläuf weicher und der Wind fast still, wobei Temperaturen um 35 Grad die Sprintermuskeln wohlwollend umschmeichelten. Almas' kleine Regierungserklärung, nach seinem ersten Freilufttitel, kam jedenfalls selbstbewusst daher: Er habe bewiesen, dass Weinheim kein Zufall war. Und: Er sei Teil einer jungen Generation, die, ja doch, zumindest das Potenzial in sich trage, Reus' Rekord (10,01) zu unterbieten. "Wir blicken", befand Almas, "auf eine goldene Zukunft."

Almas' Vita ist eine dieser Geschichten, in der auch viele kleine Schritte zum Ziel führen, vorausgesetzt, dass der Athlet an ein geduldiges Umfeld gerät. Er kam über den Fußball ("Viele Türken spielen Fußball, aber ich war immer schneller als der Ball") zur Leichtathletik, zunächst beim VfL Sindelfingen. Er war "nie der Überflieger", wie Bundestrainer Jörg Möckel sagt, aber wenn man Almas ein Staffelholz in die Hand drückte, schien er alle störenden Gedanken abzuschütteln, beflügelt vom Gedanken ans gemeinsame Unterfangen.

Der erste biografische Bremsstoß kam 2018, eine Verletzung entpuppte sich erst beim zweiten Blick als Bündelriss. Es war eine Zeit in der Almas Kaderstatus und Unterhalt der Sporthilfe verlor, es war aber auch eine Zeit, in der er merkte, wie aus etwas Schlechtem etwas Gutes wachsen kann.

Der Nachwuchs treibt den Umbruch voran

Almas fand damals zu seinem Umfeld, das ihm zeigte, dass ein Individualsport auch im Ensemble funktioniert. "Ohne mein Team wäre ich heute nicht da, wo ich bin. Deshalb spreche ich auch so oft vom Wir", sagte er in Braunschweig. Neben Sven Knipphals, dem ehemaligen Sprinter, der Almas zum VfL Wolfsburg holte, vertraute er sich bald auch dem Leipziger Sprintbiotop an, um Marvin Schulte, Robert Hering, den Hürdenläufern Gregor Traber und Erik Balnuweit, den Trainern Alexander John und Staffelexperte Ronald Stein.

Die ältere Generation, sagte Almas, habe viel Wissen geteilt, das er im Selbststudium wohl kaum erlangt hätte: Dass man sich etwa unmittelbar vor dem Wettkampf besser nicht von Kohlenhydraten ernährt, weil das zu Krämpfen führen könnte. Oder wie einem über die 100 Meter im letzten Drittel nicht die Beine und der Kopf schwer werden. Als Almas im Februar in Leipzig seinen ersten Einzeltitel bei den Erwachsenen erstand, über 60 Meter, da habe er den Flurfunk in der Szene schon vernommen: "Okay, der kommt über die 100 Meter eh nicht an, der ist nur 1,75 Meter groß, der kann nur 60 Meter."

Früher habe er tatsächlich oft seiner explosiven erste Rennhälfte vertraut, aber wenn er auf ähnliche "Startmonster" traf, wie Julian Reus, "dann wird man im Kopf fest". Das passiere ihm nicht mehr. Überhaupt scheint er große Aufgaben weniger als Bedrohung zu sehen, sondern als Chance.

"Wir haben", sagte Almas, "auch vereinsübergreifend sehr gute und freundschaftliche Beziehungen reingebracht." Frei interpretiert: Das war früher nicht immer so. So treibt der Nachwuchs eifrig den Umbruch voran, ohne Berührungsängste, jeder auf seine Weise. Auch Joshua Hartmann zählt dazu, der Zweite vom Samstag, ein feingliedriger Sprinter mit großem Talent auch für die 400 Meter. Hartmann schüttet nicht vor jedem sein Herz aus, aber er wurde von Jannik Engel in Köln ähnlich behutsam ans professionelle Schnelllaufen herangeführt. Irgendwann, sagte er zuletzt, wolle er "schon mal zu so 'ner WM bei den Erwachsenen".

Für Almas, der sich in den sozialen Netzwerken "Turbotürke" nennt (sein Vater stammt aus der Türkei), könnte für Olympia 2021 nun sogar nicht nur die Staffel, sondern auch das Einzel interessant werden; die Norm liegt bei 10,05 Sekunden. Wobei die deutschen Sprinter in der Vergangenheit immer mal wieder ein Wir-Gefühl entfachten, das auch Julian Reus 2016 zum nationalen Rekord zog. Ehe sie dann auf die Kühlschränke aus dem Ausland trafen, die noch mal ein ganz anderes Niveau vorlegten.

Kann trotzdem sein, dass diese komische Saison der Ursprung von etwas Größerem ist. Als im Frühjahr alle Großereignisse aus dem Kalender verschwanden, erzählte Almas, haben wir "irgendwann die Möglichkeit gesehen, dieses Jahr ganz ohne Druck anzugehen, hart zu arbeiten, den Rückenwind aus dieser Saison mitzunehmen. Für mich war das eigentlich das Beste, was passieren konnte." Er habe jetzt "richtig Blut geleckt" - und mache sich doch keinen Stress. "Wir sind jung", sagte er, "die Zeit spricht für uns." In jeder Hinsicht.

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