Alice ist nicht nur das kleine Mädchen aus dem Kinderbuch, Alice ist auch eine zehnjährige Fuchsstute, die Wunder zu vollbringen scheint. Mehr als den Namen haben die beiden aber wohl nicht gemein. Die vierbeinige Alice ist eine Kämpferin im Parcours. Es ist ihr egal, ob Simone Blum sie schnell oder langsam reitet, ob sie ganz dicht vor einem Hindernis steht, aus weitem Abstand abspringen oder sich sogar über dem Sprung recken und strecken muss, um ja keine Stange zu berühren. Sie will rüber. Das sind die Weltklassepferde, von denen jeder Spitzenreiter träumt.
In Zeiten, in denen die deutschen Springreiter in der Weltrangliste blamabel abgerutscht sind, sind Alice und Blum ein Lichtblick für den gebeutelten Bundestrainer Otto Becker - der nicht so recht weiß, wie er im nächsten Jahr für die Weltmeisterschaft in Tryon/North Carolina ein schlagkräftiges Team zusammenbekommen soll. "Alice macht alles möglich" sagt Simone Blum, 28. Im Juni wurde sie deutsche Meisterin, in der gemischten Konkurrenz wohlgemerkt, bei den Frauen hatte sie ein Jahr zuvor triumphiert.
Zu Jahresbeginn hätte Blum nicht laut sagen dürfen, dass sie die WM im Visier hat, ohne ausgelacht zu werden. In einer einzigen Saison machte die Stute ihre Reiterin international salonfähig. In der Stuttgarter Schleyerhalle am vergangenen Wochenende blieb das Paar in sechs Parcours ohne Abwurf, entschied zwei Springen für sich - darunter die German Masters, die Blum als zweite Frau nach Meredith Michaels-Beerbaum gewann. Im Weltcupspringen wurde Blum Vierte hinter dem Schweizer Olympiasieger 2012, Steve Guerdat auf Hannah, und den Deutschen Philipp Weishaupt (Asathir) und Christian Ahlmann (Epleaser).
Vom Labor zurück in den Sattel und dank Alice rasant nach oben
Alice bekommt jetzt dreieinhalb Monate Pause, der Weltcup ist für Blum in dieser Saison kein Thema. Die Fuchsstute ist ihr einziges Spitzenpferd, ihre Kräfte müssen geschont werden. Blum unterhält im bayerischen Zolling zusammen mit ihrem Lebensgefährten Hansi Goskowitz einen Turnierstall. Nicht immer hatte sie eine Profikarriere als Springreiterin im Auge. Mit zwölf Jahren wurde sie bayerische Ponymeisterin in der Vielseitigkeit. Kurz vor dem Abitur lag sie nach einem schweren Sturz mit Hirnblutungen im Krankenhaus. Danach wurde der Sport kleiner geschrieben, Blum studierte und legte ihre Masterprüfung in Biologie und Chemie ab. Aber es zog sie zurück in den Sattel.
Begonnen hat der Aufstieg in die oberste Liga beim Maimarkturnier in Mannheim. Jetzt, gegen die starke Konkurrenz, fiel das Paar dem Bundestrainer auf. "Die Stute machte alles super, ein Ausnahmepferd, dachte ich", sagt Becker. Gemeinsam mit der Reiterin entwickelte er einen Plan für die Saison, sah erste Fünfsterne-Nationenpreise vor. Doch in Amsterdam verletzte sich Alice und wurde nicht eingesetzt, der erste Start beim CHIO Aachen geriet holprig. Für die Europameisterschaft in Göteborg reiste Blum nur als Reservistin mit. Das erwies sich als glückliche Fügung. Sie gewann beide Nebenprüfungen außerhalb des Championats. "Wir konnten ganz in Ruhe und ohne Druck in diese schwere Klasse hereinwachsen", sagt Blum, "ohne gleich die Verantwortung für das Team mittragen zu müssen." Im Herbst rundete ein Grand Prix-Sieg beim Fünfsterne-Turnier in Lausanne die Freiluftsaison ab.
"Alice ist unverkäuflich"
Alice ist seit drei Jahren im Stall Blum, die Harmonie musste hart erarbeitet werden. Die Tatsache, dass sie eine Frau ist, kam Simone Blum zugute. "Alice hasst nämlich Männer", sagt sie. Fremde dürfen sich ihr gar nicht nähern. Blums Lebensgefährte hat es durch geduldiges Anbiedern mit Leckerbissen geschafft, einigermaßen akzeptiert zu werden. Im Sattel sitzt Simone nur selbst. Auch sonst hat die Diva ihre Allüren, frisst nur das beste Heu, scheut vor eingebildeten Gespenstern am Boden.
Trotzdem würde sie vermutlich einen zweistelligen Millionenbetrag kosten; sie ist nach Ansicht von Fachleuten derzeit das Pferd mit dem international höchsten Marktwert. Wenn sie denn verkäuflich wäre. "Ich habe die besten Sponsoren der Welt", sagt Simone Blum: "Meine Eltern. Alice ist unverkäuflich." Vater Jürgen nahm als Vielseitigkeitsreiter an den Sommerspielen 1996 teil. Er kommt gerne zu Besuch und schaut sich die Pferde beim Training an. Selbst in den Sattel gestiegen ist er schon lange nicht mehr. Und auf Alice hat er auch noch nie gesessen. "Zum Glück nicht", sagt seine Tochter. "Wenn er unbedingt reiten will, dann finden wir schon ein Pferd für ihn." Es muss ja keine Wunder vollbringen.