Süddeutsche Zeitung

Sportpolitik:Wann ist ein Opfer ein Opfer?

Renommierte Doping-Gegner entfachen eine neue Debatte um das Hilfe-Gesetz für Geschädigte des DDR-Systems.

Von Johannes Aumüller

Mehr als drei Jahrzehnte ist der größte sportliche Erfolg von Christian Schenk her, 1988 gewann der Zehnkämpfer Olympia-Gold für die DDR. Aber seit Sommer löst er wieder Diskussionen aus. Erst veröffentlichte er eine Biografie, in der er berichtete, psychisch erkrankt zu sein, und zugab, während seiner Karriere wissentlich gedopt zu haben. Kürzlich teilte er mit, er überlege, einen Antrag nach dem Dopingopferhilfe-Gesetz zu stellen.

Dieser Vorgang passt zu einer Debatte, die Teile der Anti-Doping-Szene schon seit geraumer Zeit führen. Es geht zugespitzt um die Frage, ab wann ein Opfer ein Opfer ist - und ob jemand, der wissentlich dopte, auch ein Recht auf Entschädigung hat. Von daher führt Schenks Ankündigung zu scharfen Reaktionen. "Wir fordern, das Dopingopferhilfe-Gesetz grundlegend zu verändern, die Prüfverfahren für eine Entschädigung strenger und transparenter zu gestalten - und somit Missbrauch durch Betrüger zu verhindern", heißt es in einem Schreiben von vier renommierten Doping-Gegnern an die Sportausschuss-Mitglieder des Bundestages, das der SZ vorliegt.

Die Unterzeichner sind der Molekularbiologe Werner Franke, die frühere Leichtathletik-Sprinterin Claudia Lepping, der Sportpädagoge Gerhard Treutlein sowie der ehemalige DDR-Sportler und -Trainer Henner Misersky, der bekannt wurde, weil er die staatlich verordnete Verabreichung von Dopingmitteln an seine Athleten in der DDR verweigert hatte. "Das Gesetz war immer schon eine Einladung zum fortwährenden Betrug durch damals dopende Sportler, die heute behaupten, nichts gewusst zu haben", heißt es. Dass ein geständiger Doper wie Schenk einen Antrag in Erwägung ziehe, "zeigt, dass das Gesetz und sein humanitärer Ansatz missbraucht werden".

Das Opferhilfe-Gesetz bietet Ex-DDR-Sportlern die Möglichkeit, einen Entschädigungsantrag in Höhe von 10 500 Euro zu stellen. Zunächst war es bis Dezember 2018 befristet und umfasste einen Fonds in Höhe von 10,5 Millionen Euro, weil mit zirka 1000 Antragstellern gerechnet wurde. Am 18. Oktober beschloss der Bundestag aber, die Antragsfrist um ein Jahr zu verlängern und den Fonds auf 13,65 Millionen Euro aufzustocken. Der Bundesrat berät das Thema am 23. November.

Das Gesetz ist eine - sehr späte - Reaktion der Politik auf das staatlich organisierte Massendoping der DDR. 1974 beschloss deren Führung den "Staatsplan 14.25". Schon Kinder und Jugendliche bekamen Dopingmittel verabreicht, vor allem den Klassiker Oral-Turinabol, offiziell bezeichnet als Vitamine. Politiker, Funktionäre und Mediziner heckten ein perfides System aus. Mehr als 10 000 (Nachwuchs-)Sportler waren involviert. Nur vereinzelt gab es Athleten und Trainer, die sich widersetzten. Über die gesundheitlichen Risiken wurde niemand aufgeklärt; von denen, die damals die Mittel schluckten, leiden viele heute an schweren gesundheitlichen Schäden.

Lange wurde das ignoriert. Dass sich das änderte, lag auch an der Arbeit des Dopingopferhilfe-Vereins (DOH), der den Betroffenen seit einigen Jahren eine Stimme verleiht und um dessen Arbeit es zuletzt innerhalb der Anti-Doping-Szene heftige Auseinandersetzungen gab. 2002 erfolgte eine erste Runde, in der 194 Ex-Sportler eine Entschädigung erhielten; 2016 wurde der zweite Fonds aufgelegt, der nun verlängert werden soll. Bisher gingen beim zuständigen Bundesverwaltungsamt 902 Anträge ein, zwei Dritteln wurde stattgegeben. Die Zahl der Anträge stieg zuletzt stark. Der DOH erklärt das so, dass es viele Ex-Sportler Überwindung kostet, sich zu melden - oder sie jetzt erst die Zusammenhänge zwischen dem Tablettenkonsum und ihrer Krankheit erkennen würden. Zumal das Doping eingebettet gewesen sei in ein System aus struktureller Gewalt, Druck und Abhängigkeit.

Wer eine Entschädigung will, braucht einen Nachweis, dass er selbst oder die Mutter zur Zeit der Schwangerschaft Mitglied eines DDR-Kaders war, sowie ein fachärztliches Gutachten, nach dem die Erkrankung mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 Prozent auf die Dopingverabreichung zurückzuführen sei. Er muss zudem angeben, von wem er das Mittel erhielt, und dass ihm ohne sein Wissen die Substanzen verabreicht worden seien.

Die Autoren des aktuellen Schreibens fordern nun, dass die ärztlichen Gutachten gründlicher hinterfragt werden. Für sie ist nicht jeder DDR-Sportler, der krank ist, ein Staatsplan-Opfer mit Anspruch auf Entschädigung. Und daneben ist der Punkt des "wissentlichen Dopings" heikel - bei Schenk, aber auch bei vielen anderen der damaligen Athleten.

"Auf der einen Seite gab es Minderjährige, die definitiv nichts wussten. Aber bei den Erwachsenen ist ganz klar, dass sie wissentlich gedopt haben", sagt Molekularbiologe Franke und verweist darauf, dass dies ja auch in der Anklageschrift zu den Berliner Prozessen Ende der Neunziger "ausdrücklich als bewiesen zugrunde gelegt" worden sei. Opfer sind für ihn und seine Mit-Autoren zwar beide Gruppen, weil niemand wusste, welche schweren gesundheitlichen Risiken bis hin zu Todesfolgen sich durch dieses "Verbrechen", wie Franke es nennt, ergeben. Aber diejenigen, die wissentlich dopten, sind aus ihrer Sicht nicht Dopingopfer im Sinne des Hilfsgesetzes, sondern Verletzte eines Medikamentenmissbrauchs und einer vorsätzlichen Körperverletzung.

Für die DOH-Vorsitzende Ines Geipel bedeutet "ohne Wissen", dass es für die Athleten keine Aufklärung über Nach- und Nebenwirkungen gegeben habe. Und aus ihrer Sicht wussten die Athleten oft nicht, dass die überreichten Tabletten Dopingmittel waren. Sie plädiert dafür, in der Debatte und bei der Bewertung der Fälle stets das gesamte unmenschliche System vor Augen zu haben: "Alle Athleten im DDR- Staatsdoping fallen unter das im Einheitsvertrag festgeschriebene DDR-Unrecht."

Zehnkämpfer Schenk sieht sich gar nicht als "Opfer" des Systems. Mit 17 oder 18 Jahren habe er die Mittel das erste Mal bekommen: "Ich wusste, dass das Doping ist, aber als junger Mann ist das Unrechtsbewusstsein doch ein ganz anderes. Für mich war das fast eine Würdigung. Die Pillen zu bekommen, das bedeutete, dass ich in den Kader aufgenommen war, von dem besondere Leistungen erwartet wurden."

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Quelle:
SZ vom 16.11.2018
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