Süddeutsche Zeitung

Sportpolitik:Brisanz in der Begründung

Das oberste Sportgericht verweigert 47 klagenden Russen den Olympia-Start. Doch im Cas-Urteil ist die Rede von einem "staatlich geförderten Dopingsystem" - das konterkariert die bisherige Bewertung der Affäre durch das IOC.

Von Johannes Aumüller

Matthieu Reeb brauchte nicht lange. Binnen drei Minuten war er fertig. Vom Podium eines Presseraumes in Pyeongchang verlas der Generalsekretär des Internationalen Sportgerichtshofes (Cas), was auf eine DIN-A4-Seite passte - dann war klar gestellt: Der Einspruch von 47 russischen Athleten und Betreuern, die sich auf den letzten Drücker zu den Spielen klagen wollten, wurde abgelehnt. Das Vorgehen des Internationalen Olympischen Komitees sei in Ordnung gewesen.

So bleibt es dabei, dass Russland in Pyeongchang mit 168 Athleten vertreten sein wird. Dennoch darf sich das IOC nicht als Sieger des Tages fühlen. Denn zugleich zerschoss das Richter-Trio des Cas die bisherige Bewertung und Strategie des IOC zur russischen Doping-Causa. Im 13-seitigen Urteil heißt es unter Punkt sieben: "Das Panel sah sich der Beurteilung einer beispiellosen Antwort in einer ungewöhnlichen Situation gegenüber: einem staatlich geförderten Doping-System." Kurz nach Publikation des Urteils gab die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) ein Statement heraus, in dem es unter anderem hieß, sie begrüße diesen Satz des Cas über das staatlich geförderte Doping-System.

"Staatlich gefördertes Doping-System" - das ist ein Begriff, den viele internationale Beobachter verwenden, wenn es um eine Bewertung der Geschehnisse in Russland zwischen 2011 und 2015 ging. Der Begriff ist naheliegend, da gemäß Aktenlage die Spitze des Sportministeriums das jahrelange Manipulationssystem und auch den Betrug rund um die Winterspiele 2014 in Sotschi orchestrierte - und weitere staatliche Stellen wie der Geheimdienst FSB maßgeblich beteiligt waren. Russland aber wies die Existenz eines Staatsdopingsystems stets zurück.

Und auch das IOC machte sich diesen Begriff nie zu eigen. Im Gegenteil: Es mühte sich seit Beginn der Affäre, das Wort "staatlich" irgendwie zu umgehen - und sogar zu tilgen. Der von der Wada eingesetzte Sonderermittler Richard McLaren hatte in seinem ersten Bericht vom Juli 2016 noch von einem "staatlich dirigierten" System gesprochen. Im zweiten Report des kanadischen Juristen, der ein halbes Jahr später erschien, war nur noch von einer "institutionellen Verschwörung" die Rede. Seine Argumentation, sinngemäß: Ja, er habe die Terminologie gewechselt, aber jeder könne die Vorgänge doch selbst so benennen, wie er es angesichts der Faktenlage für richtig halte.

Das IOC setzte nach Publikation des zweiten McLaren-Reports eine Kommission ein, die unter Leitung des Schweizer Ex-Politikers Samuel Schmid die Verantwortung des russischen Staates prüfen sollte. Dabei kam die Staatsführung besonders gut weg. Die Kommission verwies auf den Wechsel der Terminologie bei McLaren. Und sie hielt explizit fest, es gebe keinen Beweis für eine Verquickung höchster Stellen. Stattdessen lautete die Formulierung fortan: "systemische Manipulation im Anti-Doping-Kampf in Russland". IOC-Präsident Thomas Bach umschiffte das Wort "Staat" bei Fragen stets weitläufig. Und der Kreml nahm es dankbar an: Das IOC habe festgehalten, dass es niemals ein staatliches Dopingsystem gegeben habe, hieß es aus Moskau.

Dies war ein Hohn angesichts der Tatsachen. Aber es war offenkundig Grundlage eines Deals. Denn wenn das IOC "Staatsdoping" festgestellt hätte, hätte es sehr hart gegen Russland als System vorgehen müssen. So aber kam das System gut weg. Für Russlands Olympia-Komitee gab es nur eine kurze Sperre, die schon zur Schlussfeier in Pyeongchang wieder aufgehoben werden kann. Bis dahin dürfen 168 handverlesene russische Sportler auf Einladung des IOC teilnehmen. Sie starten als "Olympische Athleten aus Russland", womit das Land im Grunde voll präsent ist. Die 168 sollen Botschafter einer sauberen und neuen Generation russischer Sportler sein, wie IOC-Chef Bach stets betont.

Parallel dazu ging das IOC gegen einzelne Athleten durchaus hart vor. Daraus erwuchs eine juristische Gemengelage, die bis wenige Stunden vor der Eröffnungsfeier weltweit für Verwirrung sorgte. Am Ende standen jene 47 Russen vor der Ad-hoc-Kammer des Cas. 15 von ihnen waren zunächst vom IOC lebenslang für Olympia gesperrt, dann vom Cas wieder freigesprochen worden - trotzdem verweigerte das IOC die Einladung. Die 32 anderen erhielten wegen Zweifeln an ihrer Sauberkeit keine Einladung, obwohl es gegen sie kein konkretes Dopingverfahren gegeben hatte. Dass manche dieser Sportler aufgrund der Ergebnisse einer Prüfkommission (siehe Text unten) nicht eingeladen wurden, sei nicht als Sanktion zu begreifen, sondern das Recht des IOC, hieß es nun. Und auch bei dieser Prüfung habe die Kommission nicht willkürlich gehandelt.

Den Russen fehlt jetzt viel Sport-Prominenz - zum Beispiel Shorttrack-Meister Viktor Ahn

Nach der Cas-Entscheidung muss Russland somit auf zahlreiche Spitzensportler wie den sechsmaligen Shorttrack-Olympiasieger Viktor Ahn, Biathlon-Staffel-Olympiasieger Anton Schipulin oder den Top-Ski-Langläufer Sergej Ustjugow verzichten. Unter den Athleten und in ihrem Umfeld ist der Frust groß, in der russischen Öffentlichkeit ebenfalls. Der von den Spielen verbannte Vize-Premier Witalij Mutko nannte das Urteil "ungerecht".

Doch der Umgang mit einzelnen Athleten dürfte bald aus dem Fokus geraten. Das IOC hatte gesagt, Russlands Olympia-Komitee dürfe nur unter bestimmten Bedingungen zurück in die olympische Familie. Unter welchen, wurde nicht weiter präzisiert. Russland solle den "Spirit" der Entscheidung befolgen, hieß es nur nebulös. Spannend dürfte sein, die Rhetorik weiter zu verfolgen: Wie nicht nur der Kreml, sondern auch das IOC damit umgehen wird, dass der Gerichtshof des Weltsports den Russen "Staatsdoping" attestiert hat.

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SZ vom 10.02.2018
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