Sie sei ja selbst ein wenig erstaunt, gab Karla Borger zu, dass sie jetzt hier sitze: vor einer Kamera, bei einer Presserunde, in der sie sich am Wochenende als neue Präsidentin des Vereins Athleten Deutschland präsentierte. Dann setzte sie noch mal zu einem kurzen Exkurs durch ihre sportpolitische Vita an. Als sich die unabhängige Vertretung der deutschen Sportschaffenden vor fünf Jahren formierte, war die Beachvolleyballerin schon unter den Gründungsmitgliedern; sie klinkte sich in der Folge auch immer wieder in Debatten ihres Sports ein, bei der Frage etwa, weshalb Beachvolleyballerinnen in Katar eigentlich in langer Kleidung spielen sollten. Und wenn man Borger so zuhörte, hatte man den Eindruck, dass der Sport mit seinen vielen Baustellen fast zwangsläufig eine meinungsstarke Athletin ins Engagement gezogen hatte: "Die Pyramide ist noch nicht da, wo sie sein sollte", sagte Borger. Sie meinte: mit den Athleten an der Spitze der Interessen, und zwar nicht nur in den Fensterreden der Funktionäre.
Borger wird sich um dieses Anliegen künftig sehr prominent kümmern können, als neue Vorsteherin der deutschen Sportleranliegen. Der Wasserballer Tobias Preuß, der zweite Präsidentschaftskandidat, wurde zum Vize gewählt, die dritte Anwärterin, die Rollstuhlbasketballerin Mareike Miller, gehört dem neuen Präsidium an - wie auch Marathonläuferin Fabienne Königstein, Kunstradfahrer Lukas Kohl, Rodlerin Dajana Eitberger und Säbelfechterin Lea Krüger.
Eine von Borgers ersten behördlichen Handlungen war es, wie in jedem handelsüblichen Verein, den Vorgängern zu danken, wobei ihr das leichtfiel: Max Hartung und Mitstreiter hatten in den ersten Jahren des Vereins ein erstaunlich starkes Fundament gegossen, die Vertretung aus dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) gelöst und viele Themen angeschoben. Darauf wolle sie aufbauen, sagte Borger, keine leichte Aufgabe, denn: "Wir übernehmen den Staffelstab in einer Umbruchphase." Wobei Borgers Verein von den großen Institutionen im deutschen Sport gerade noch am stabilsten wirkt.
Die Athletenvertreter beharren darauf, eine Anlaufstelle für sexualisierte Gewalt zu installieren - unabhängig vom Sport
Das liegt zum einen daran, dass es die neue Regierung samt Sportausschuss noch gar nicht gibt. Und der DOSB muss im Dezember erst mal einen neuen Präsidenten wählen, nachdem der umstrittene Alfons Hörmann nicht mehr antritt. Das Verhältnis zum Dachverband "war bisher keine Liebesbeziehung", räumte Johannes Herber, der Geschäftsführer von Athleten Deutschland, jetzt ein. Unbequeme Stimmen als Bereicherung zu schätzen, ist eben nicht gerade die Kernkompetenz vieler Verbände. "Auf Arbeitsebene", sagte Herber, tausche man sich mittlerweile aber durchaus gewinnbringend aus.
Borger sagte, ihr liege viel daran, diesen Dialog zu festigen. Das wird nur insofern spannend, als dass der organisierte Sport zuletzt mal wieder gar keinen Anlass sah, die Athleten zu involvieren, bei der Fahndung nach einem DOSB-Präsidentschaftskandidaten etwa. Borger quittierte das nun mit einem ersten kleinen verbalen Schmetterball: "Es geht da ja auch um unsere Zukunft", sagte sie, "da sollten die Athleten auch an erster Stelle stehen."
Dieses Leitmotiv zog sich durch viele Themen, die sie in ihrer ersten Regierungserklärung streifte, vor allem beim sexualisierten Missbrauch, einem gewaltigen Problem im Sport. Borgers Verein fordert seit einer Weile eine vom Sport losgelöste Anlaufstelle, ein sogenanntes Zentrum für Safe Sport. Der DOSB wiederum findet, "diese Verantwortung soll nicht an ein Zentrum abgegeben werden", wie Vizepräsidenten Petra Tzschoppe zuletzt der SZ sagte.
Herber betonte nun nochmals, dass viele Fälle schlecht behandelt würden oder versandeten, solange sie in Ombudsstellen und Dunstkreisen der Verbände behandelt würden. Er habe den Vorschlag vernommen, ein Organ bei der Nationalen Anti-Doping-Agentur zu installieren, sagte er, euphorisch klang Herber dabei aber nicht. Auch die Nada ist ja durchaus mit dem organisierten Sport verflochten.
Borger, so viel ist sicher, mangelt es nicht an einer starken Stimme samt respektabler Referenzen. Die 32-Jährige war 2013 WM-Zweite, zwei Mal bei Olympia, immer wieder auch standhaft abseits des Feldes. Vor einem Jahr weigerte sie sich, bei einem Turnier der finanzkräftigen World Tour in Katar zu spielen: Sie wolle sich bei 30 Grad in der Mittagshitze nicht vorschreiben lassen, in welchen Klamotten sie anzutreten habe, sagte sie (die Vorschrift, T-Shirts und knielange Hosen zu tragen, wurde später storniert).
Welche Art von Leistungssport will die Gesellschaft überhaupt fördern?
Borger hatte auch schon mit dem Deutschen Volleyball-Verband gestritten, weil sie 2017/18 mit ihrer damaligen Partnerin Margareta Kozuch nicht an den neuen Stützpunkt nach Hamburg wechseln wollte. "Da ging es mir mal ein Jahr nicht so gut", sagte sie nun. Mittlerweile darf sie mit Partnerin Julia Sude in Stuttgart trainieren, sie müssen ihren Trainer aber selbst bezahlen. Das hinderte sie freilich nicht daran, zuletzt das Finale der World Tour zu gewinnen. Bis Paris 2024 werden beide wohl noch weitermachen, trotz aller neuen Verpflichtungen.
Stärke kann ja auch sein, zuzugeben, was man (noch) nicht weiß. Die eine oder andere Frage - zur Spitzensportreform, in welchem Ministerium der Sport künftig angesiedelt sein sollte - reichte Borger am Wochenende an ihren Geschäftsführer weiter. Herber sagte, dass man mit den künftigen Verhandlungspartnern erst mal erörtern müsse, welchen Leistungssport man als Gesellschaft überhaupt fördern wolle. So viele Medaillen wie möglich? Das halte er für einen schlechten Gradmesser. Die Athleten bevorzugten einen "humanen Leistungssport", der nicht mit Nationen wetteifere, die andere Werte voranstellen, in Sachen Anti-Doping etwa. Wenn man Borger richtig verstand, könne auch nur ein solcher Sport überhaupt noch Jugendliche begeistern, die allein ihrem Sport immer häufiger fehlten.
"Ich bin sicher", sagte Johannes Herber zum Abschluss, "dass uns die Themen nicht ausgehen." Dann lächelte er.