Süddeutsche Zeitung

Sportpolitik:Alles noch schlimmer

Ein Untersuchungsbericht zeichnet ein düsteres Bild der Präsidentschaft des Ex-Gewichtheberbosses Ajan.

Von Johannes Knuth

Es gibt einen Moment an diesem denkwürdigen Tag, der zeigt, wie groß der Einfluss des einstigen Paten noch immer ist. Ursula Papandrea sitzt am Donnerstagabend in ihrem Büro, im Hintergrund ein paar Gewichtheber-Memorabilien und ein Bild, in dem das Wort "Erfolg" eingerahmt ist. Was ihr durch den Kopf geschossen sei, als sie den vernichtenden Ermittlungsbericht gelesen hat, wird sie gefragt? Jene 122 Seiten also, die protokollieren, wie ihr Vorgänger Tamas Ajan den Gewichtheber-Weltverband (IWF) zugrunde gerichtet habe, und dessen Trümmer sie als Interimspräsidentin nun aufräumen soll? Papandrea atmet tief, so wie sie oft sehr tief atmet während dieser digitalen Pressekonferenz. Sie umschifft die Frage erst einmal, sie habe da so ihre Gründe, sagt sie, überhaupt wolle sie jetzt lieber in die Zukunft blicken. "Der Report steht für sich", sagt sie schließlich - und stößt den Vorhang zu ihren Gedanken doch noch ein bisschen auf. Ajans Verhalten sagt sie zögerlich, sei "völlig inakzeptabel" und "vermutlich kriminell".

Der Mann, von dem jetzt wieder viel die Rede ist, mag formell abgesetzt sein, aber aus den Köpfen ist er damit noch lange nicht. Jener Tamas Ajan, 81, der mehr als vier Jahrzehnte in der IWF herrschte, von 1975 bis 2000 als Generalsekretär, bis zuletzt als Präsident. Jener Multifunktionär, der zehn Jahre lang Mitglied im Internationalen Olympischen Komitee (IOC) war und bis zuletzt auch Ehrenmitglied. Jener Alleinherrscher, der dem Gewichtheben, das über Jahre immer wieder mit Dopingfällen Schlagzeilen machte, Reformen versprach und den Traditionssport in Wahrheit ausnahm wie eine Weihnachtsgans. So steht es zumindest in dem Untersuchungsbericht, den der Kanadier Richard McLaren jetzt vorgestellt hat.

Indizien, Berichte, Belege gab es schon seit Jahren; manches wurde an das IOC herangetragen, das aber stets bestritt, über die Missstände gewusst zu haben. Zum Knall kam es jedenfalls erst, als die ARD im Januar in einer Dokumentation entblätterte, wie Ajan ein Netz aus Korruption und Vertuschung über seinen Sport gespannt hatte. Der Ungar stritt alles ab, damals und auch jetzt wieder. Die Amerikanerin Papandrea übernahm nach einigem Hin und Her jedenfalls die Spitze, im Februar beauftragte die IWF den Kanadier McLaren, der schon im russischen Staatsdopingskandal ermittelt hatte. Auch damals hatten erst journalistische Recherchen schwere Missstände enttarnt, vor allem rund um die alte Führung des Leichtathletik-Weltverbandes. Dessen ehemaliger Präsident Lamine Diack soll sich ab Montag übrigens in Paris vor Gericht verantworten. Vieles aus Diacks mutmaßlichem Sündenregister findet sich auch in Ajans Kosmos wieder - Doping, Korruption, eine "autokratische Struktur", die McLaren so beschreibt: "My way or the highway." Mein Wille geschehe.

Das Fazit des Sportrechtsexperten ist klar: Unter Ajan war alles noch viel schlimmer als bisher bekannt. Das zentrale Regierungsmittel des Ungarn sei Bargeld gewesen, 27,8 Millionen US-Dollar, die Ajan allein im untersuchten Zeitraum von 2009 bis 2019 von IWF-Konten abhob oder in Empfang nahm. Mal bedachten ihn nationale Verbände besonders gütig, deren Sportler dann nicht gesperrt wurden. 40 Positivtests wurden so offenbar verhüllt, darunter von WM-Medaillengewinnern. Mal kaufte sich Ajan sein Exekutivkomitee einfach zusammen. Beim IWF-Kongress 2017, notiert McLaren, hätten Delegierte im Hotelflur gewartet, um ihr Bestechungsgeld zu erhalten - brav in einer Schlange, wie an der Supermarktkasse. 10,4 Millionen Dollar seien allein in den vergangenen zehn Jahren versickert, so McLaren; es sei "unmöglich", die Spur dieses Geldes nachzuverfolgen. Ajan habe nahezu alle Kontrollgremien im Dunklen gelassen; nur ein Bruchteil des IWF-Vorstands, der Kontinentalfürsten und Nationalverbände hätten zudem mit seinen Ermittlern kooperiert: "Der Appetit an Aufklärung war praktisch nicht vorhanden."

So bleibt ein Konflikt, den auch McLaren unaufgelöst stehen lässt: "Es ist Zeit für eine neue Ära im Gewichtheben", sagt er. Nur: Wie soll so ein Aufbruch gelingen, wenn viele mutmaßliche Mitwisser noch immer in den Gremien sitzen?

Papandrea versucht sich am Donnerstag an einer Erklärung. Das Exekutivkomitee habe McLaren ja selbst beauftragt, nun werde man sämtliches Material an die zuständigen Verbände, Anti-Doping-Agenturen und staatlichen Ermittler weiterleiten. Sie werde auch weitere, tiefgreifende Reformen einleiten. "Mein Ziel ist es, dass Gewichtheben einer der olympischen Musterverbände wird", sagt sie. Wie schwer das wird, zeigt schon der Umstand, dass einer von Ajans Vertrauten in ihrer Pressekonferenz mithört: Attila Adafi, Ajans Schwiegersohn und noch Generalsekretär der IWF. Ermittler fanden auf seinem PC belastende Dokumente über Stimmenkäufe. Als Papandrea auf Adafi angesprochen wird, weicht sie wieder aus. Man stecke noch in juristischen Prozessen. Dann redet sie wieder von der Zukunft.

Das heißt wohl auch, dass vieles aus der Vergangenheit im Dunklen bleiben wird. Ajan trägt ja noch immer viel Wissen in sich. Nicht nur über die IWF, auch über die olympische Familie.

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SZ vom 07.06.2020
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