Sportmedizin:Blinder Fleck

World Cup 2014 - Final - Germany vs Argentina

Die Neuropsychologin Daniela Golz hat es gestört, wie über die Verletzung von Christoph Kramer im WM-Finale gesprochen wurde.

(Foto: Diego Azubel/dpa)

In Deutschland werden Gehirnerschütterungen nach Sportunfällen unterschätzt. Eine Würzburger Gesellschaft will aufklären.

Von Sebastian Fischer

Felicitas Schneider wusste nicht mehr, wo sie war. Sie trug am 14. Januar 2012 das Basketballtrikot der TG Würzburg, saß auf einer Bank in der Hardtwaldhalle in Sandhausen, sah ihre Mannschaft ein Zweitligaspiel bestreiten. Doch das war in ihrem Gedächtnis gerade wie ausradiert. Erst später, als im Krankenhaus ihre Gehirnerschütterung diagnostiziert war, erinnerte sie sich, dass sie natürlich mitgespielt und 20 Punkte erzielt hatte, bis sie in der Verteidigung gegen eine Sandhäuser Spielerin prallte, nach hinten fiel und mit dem Kopf aufschlug. Schneider, 23, ist drei Jahre später längst wieder gesund. Mit einem Lachen erklärt sie am Telefon, dass sie auch heute noch Basketball spielen könnte, wäre da nicht ihr Medizinstudium.

Kramers Blick? "Eindeutig und schlimm", sagt die Psychologin

"Das ist ein Fall, der fast perfekt gelaufen ist", sagt die Neuropsychologin Daniela Golz. Denn Schneider stieg nicht gleich wieder ins Training ein, obwohl ihr Kopf nicht mehr schmerzte. Sie ließ zunächst testen, ob sie wieder alles registrierte, was ihre Augen sahen. Schrittweise, unter Anleitung, begann sie wieder mit dem Sport. Glaubt man der Psychologin Golz, dann gibt es in Deutschland viel zu wenige solcher Geschichten. Und viel zu viele wie die berühmte von Fußballer Christoph Kramer. Golz hat im Fernsehen gesehen, wie Kramer im WM-Finale 2014 mit seiner Schläfe an die Schulter des Argentiniers Ezequiel Garay prallte und auf den Rasen sank, sie hat gleich Kramers entstellten Blick registriert, "der war eindeutig und schlimm". Nun will sie aufklären, welch hohe Risiken schon leichte Kopfverletzungen im Sport bergen. Sie bildet mit dem Psychologen Gerhard Müller, der damals Schneider betreute, den Vorstand der neu gegründeten Würzburger Gesellschaft für Sport-Neuropsychologie - der ersten in Deutschland.

Kramers Verletzung war nicht ausschlaggebend für die Gründung, aber die Kritik nach dem WM-Finale - Kramer hätte nicht weiterspielen dürfen - und die öffentliche Diskussion darüber, habe das Projekt vorangetrieben, sagt Golz. Es hat sie geärgert, wie über Kramers Verletzung gesprochen wurde, pointiert, beiläufig, "als würde man sich einen blauen Fleck einhandeln". Golz, Klinische Neuropsychologin in Hennef, und die Würzburger Gesellschaft wollen auf ein Problem hinweisen: Gehirnerschütterungen sind im deutschen Sport ein blinder Fleck.

Es ist erstaunlich, was Golz aus ihrem Berufsalltag berichtet. Sie erzählt dann von einem Kind, das im Schulsport beim Trampolinspringen mit dem Kopf gegen die Wand prallte, mit Kopfschmerzen nach Hause ging und am nächsten Tag im Unterricht wirr redete. Die Mitschüler fanden das lustig, wie die Fußballfans in Kramers Fall. Erst nach Tagen - zu spät, sagt Golz - erfolgte die neuropsychologische Diagnostik, später stationäre Reha. "Bei Sportlern und in ihrem Umfeld fehlt das Bewusstsein, welche Auswirkungen leichte Kopfverletzungen haben können", sagt sie.

Dabei sind die Risiken bereits leichter Kopfverletzungen längst bekannt. In den USA ist seit Jahren von einer concussion crisis im Sport zu lesen, dort gibt es auch die weltweit einzige ähnliche Gesellschaft, die den Würzburgern als Vorbild dient. Vor allem American Football birgt große Risiken für Gehirnkrankheiten, Forscher an der Universität Boston fanden jüngst Schädigungen in 76 von 79 untersuchten Gehirnen ehemaliger Spieler der Profiliga NFL. Gerade klagt eine frühere College-Fußballspielerin gegen die Universität Illinois, weil Trainer dort ihre Gehirnerschütterung ignorierten.

Problematisch sind vor allem solche Gehirnerschütterungen, die ohne anschließende Bewusstlosigkeit auftreten, was im Sport besonders häufig vorkommt. Die Symptome sind so unspezifisch, dass der Vorfall oft ignoriert und ohne weitere Untersuchungen wieder mit dem Sport begonnen wird, auch unter Druck der Trainer. Allerdings ist der medizinischen Forschung zufolge in der Woche nach der Verletzung das Risiko weiterer Kopfverletzungen stark erhöht. Bei einem weiteren Schlag können die Folgen lebensbedrohlich sein. Und selbst kleine, wiederholt auftretende Erschütterungen können folgenreich sein. Eltern in den USA klagen deshalb gegen die FIFA: Wegen der Auswirkungen von Kopfballtraining auf Kindergehirne.

Die Würzburger Gesellschaft will natürlich nicht den Sport verändern, Kopfbälle lassen sich nicht verbieten, Zusammenstöße nicht verhindern. Sie will Forschungsinteresse wecken und das Bewusstsein schärfen für die Auswirkungen von leichten Kopfverletzungen, vor allem im Breiten- und Schulsport. Übungsleiter sollen instruiert werden, dass nach Schlägen gegen den Kopf immer ein Arzt und im besten Fall auch ein Neuropsychologe aufgesucht werden sollte. Natürlich wünschen sich die Neuropsychologen auch eine höhere Relevanz ihrer oft vernachlässigten Disziplin.

Und sie wünschen sich mehr Fälle wie den von Felicitas Schneider. Nach einem Tag im Krankenhaus fuhr sie zu Gerhard Müller, der mit den Würzburger Basketballerinnen zu Saisonbeginn ein sogenanntes Baseline-Testing durchgeführt hatte, um Vergleichswerte für kognitive Tests nach der Gehirnerschütterung zu erheben. Anhand eines sechsstufigen Plans kehrte sie ins Training zurück.

Im englischen Profifußball ist die Methode schon Standard, in Deutschland könnte man sich daran ein Beispiel nehmen, findet Daniela Golz. Immerhin: Die Deutsche Fußball-Liga hat schon in Würzburg angerufen.

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