Sporthistorie: Doping in der DDR:"Sperlinge, weist es zurück!"

Wie sich eine mutige DDR-Trainerin 1963 mit einem Brief gegen Staatsdoping und Systemzwang wandte - und das heute auf die Leichtathletik-WM ausstrahlt.

Claudio Catuogno

Oder die Geschichte mit dem Riemenrudern. "Die Technik haben wir ja gar nicht gekannt - wir haben die Blätter gehalten wie Kohleschaufeln!" Helga Schuck lacht durch den Telefonhörer, hell und klar, 46 Jahre später und um einige Illusionen ärmer, vor allem um jene, dass es damals wirklich um die Freundschaft aller Völker der Welt gegangen sein soll.

Sporthistorie: Doping in der DDR: Eine der vielen Facetten der Systemzwänge der DDR war flächendeckendes Doping im Sport. Die ehemalige Trainerin Helga Schluck verweigerte sich dem Staatsdoping.

Eine der vielen Facetten der Systemzwänge der DDR war flächendeckendes Doping im Sport. Die ehemalige Trainerin Helga Schluck verweigerte sich dem Staatsdoping.

(Foto: Foto: ddp)

Aber doch mit einem Rest dieser unbedarften Ergriffenheit, und wenn man ihr eine Weile zuhört, fällt es leicht, sich in den Sommer 1963 zurück zu denken, in dem - noch unbemerkt - ein Geschwür zu wuchern begann unter der Oberfläche des Leistungssports. Eines, das bis heute nicht geheilt ist. Nur, jedenfalls was seine ostdeutsche Komponente angeht, in tausenden Stasi-Berichten dokumentiert.

1963 also, Grünau bei Berlin, das Trainingslager der Nationalmannschaft. Vier junge Frauen mit fröhlichen Stimmen, wie sie am Kanal-Ufer herumspringen, albern manchmal, ausgelassen und auch beseelt von dem Gedanken, ein kleines Rädchen im großen Sozialismus zu sein. Aber vor allem doch albern und ausgelassen - "wir waren ein verrückter Haufen", sagt Helga Schuck, die damals noch Helga Frideling hieß, "wir waren die Leipziger Ruderweiber". Die EM in Moskau stand bevor, bei der sie Vierte werden sollten im Vierer.

Rührend klare Worte

Aber ihre Trainerin Johanna Sperling, Jahrgang 1932, hatte man nicht mitreisen lassen nach Grünau, sie war nur kurz zu Besuch gewesen und dann besorgt nach Leipzig zurückgekehrt. Besorgt um die Gesundheit ihrer Schützlinge. Und um ihre Integrität. Heute haben die vier das verstanden - Helga Frideling, Jutta Dittrich, Irmgard Brendenal und Brigitte Bader. Aber damals? "Wir haben gar nicht begriffen, was die Johanna da gemeint hat", beteuert Helga Schuck. Zurück in Leipzig jedenfalls setzte Johanna Sperling einen Brief auf und adressierte ihn an ihre "Sperlinge". Es sind Worte von anrührender Klarheit, die ab heute die Sportgemeinde bewegen dürften.

Helga Schuck hat den Brief aufgehoben, und er hat kürzlich schon einen anderen Zweck erfüllt: Auch auf seiner Grundlage sind Mittel aus dem Entschädigungsfonds für DDR-Dopingopfer ausbezahlt worden, an eine der Teamkolleginnen, aber das ist eine eigene Geschichte. Vor allem ist der Brief ein historisches Dokument.

Historisches Dokument

"Noch eines", schreibt also die Trainerin Johanna Sperling an ihre Sperlinge: "Ich bitte euch ganz ernsthaft, kein, aber auch kein einziges Mittelchen zu schlucken, das eure Leistung angeblich steigert, und wenn es als noch so harmlos, als vollkommen unschädlich oder wunderheischend euch gepriesen wird. Auch wenn man euch sagt, dass ihr dann die einzigen seid, die nichts zu sich nehmen. Bitte weist es zurück! Seid stolz darauf und denkt an die kommenden Wettkampfjahre, und denkt an eure Gesundheit. An der eigenen Willensstärke erleidet ihr keinen Schaden, und davon habt ihr genügend zur Verfügung."

Es ist nur noch dieser Brief schwarz auf weiß vorhanden. Viele der dazugehörenden Erinnerungen sind verloren gegangen oder widersprechen sich heute sogar. Jeden der Beteiligten von damals hat das Leben in der DDR anders geprägt. Teils mit und teils ohne Leistungssport. Dem stand das eigentliche Grauen 1963 ja erst noch bevor: der Doping-Staatsplan 14.25, die fast flächendeckende Verabreichung von Oral-Turinabol, verbunden mit teils schwersten Gesundheitsschäden. Da hatte sich Johanna Sperling schon zurückgezogen. Aber sie hat offenbar als eine der ersten zur Verweigerung aufgefordert.

Doping als Systemzwang

Diesen Donnerstag wird ihr in Berlin deshalb die Heidi-Krieger-Medaille des Vereins Doping-Opfer-Hilfe verliehen, benannt nach der Europameisterin im Kugelstoßen von 1986, die heute, inzwischen als Andreas Krieger, in Magdeburg lebt. Außerdem werden der ehemalige DDR-Langlauftrainer Henner Misersky, der ehemalige Kugelstoß-Bundestrainer Hansjörg Kofink und der ehemalige Leichtathletik-Funktionär Horst Klehr ausgezeichnet. Weil auch sie sich - letztere im West-Sport - weigerten, Doping als Systemzwang zu akzeptieren.

Die Preisverleihung fällt zeitlich nicht zufällig in das Spektakel der Berliner Leichtathletik-WM. Dort sind im Namen des deutschen Sports sechs Trainer im Einsatz, die kürzlich ebenfalls einen Brief geschrieben haben. Um ihren Job zu retten, nach 20 Jahren Leugnen. "Wir waren" in der DDR, schrieben diese Trainer, "im Einzelfall am Einsatz unterstützender pharmazeutischer Substanzen (Dopingmittel) beteiligt. (...) Bei einer Weigerung, diese Mittel weiterzugeben, hätten uns der Ausschluss aus dem Leistungssport und damit erhebliche berufliche Nachteile gedroht. (...) Soweit die Sportler durch den Einsatz von Dopingmitteln gesundheitliche Schäden davon getragen haben sollten, sind wir tief betroffen und bedauern dies sehr."

Man muss die Briefe nur nebeneinander legen, dann versteht man schon eine Menge über das Dilemma des Leistungssports. "An der eigenen Willensstärke erleidet ihr keinen Schaden" - wäre die nur etwas weiter verbreitet gewesen.

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