Sport:Boxen: Ein Sport vorm Verfall

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Manny Pacquiao: Abschiedskampf gegen Timothy Bradley

(Foto: AFP)

Arthur Abraham boxt wieder, Manny Pacquiao zum letzten Mal - und ihr Sport steckt tief in der Krise. Eindrücke aus einem Milieu, das um längst verlorenes Vertrauen kämpft.

Von Jürgen Schmieder und Benedikt Warmbrunn

Er zog los, eine Plastiktüte in den Händen, darin ein paar alte Turnschuhe, mehr besaß er nicht. Er hatte nicht viel, aber er hatte den Mut des Mannes, der wenig zu verlieren hat. So beginnt die Geschichte des Arthur Abraham. Sie beginnt damit, dass er in eine Trainingshalle geht, sagt, dass er Weltmeister werden will und sich sofort mit einem Weltmeister misst, mit Sven Ottke. Es ist die Geschichte eines Aufstiegs vom Plastiktütenträger zum Millionär. Es ist die Geschichte eines Boxers.

Die Geschichte vom Aufstieg gehört zur Grundsubstanz des Boxens, zwei Fäuste, ein Kämpferherz, mehr braucht ein Boxer nicht, auch im Ring steht er beinahe nackt. Im Preisboxen kann selbst ein Besitzloser an einem Abend Millionär werden, aber ums Geld ging es lange kaum. Die Geschichten über Boxer haben die Menschen bewegt, sie waren rührend, tragisch, komisch, durch diese Geschichten ist auch das Boxen selbst immer beliebter geworden. Zu sehen ist das in der Nacht auf den Sonntag, wenn in Las Vegas Arthur Abraham seinen Weltmeistertitel im Supermittelgewicht gegen den Mexikaner Gilberto Ramirez verteidigt (2 Uhr/Sky). Und sein Aufstieg ist nicht einmal der steilste, von dem in dieser Nacht erzählt wird.

Die Regeln waren einfach bei den Kämpfen auf der philippinischen Insel Mindanao: Wer nicht mehr aufsteht, der verliert. Wer verliert, der muss hungern. Der Gewinner bekommt Geld und darf Reis für seine Familie kaufen. Boxen, das erkannte Manny Pacquiao schon als kleiner Junge, ist kein Spiel und auch kein Sport. Beim Boxen muss man kämpfen. Hin und wieder starb der Verlierer, weil er nicht aufgeben wollte. Weil er um Essen für seine Familie kämpfte und nicht aufgeben durfte. Was Pacquiao noch lernte: Wer eine Ringschlacht liefert und die herumstehenden Leute begeistert, der bekommt manchmal Geld für eine Mango zugesteckt. Wer gewinnt, der wird bewundert. Wer gewinnt, der wird respektiert. Und: Wer gewinnt, der darf auch mal ein Arschloch sein.

Schlumpf mit gebrochenem Kiefer

Das Gefühl, ein Gewinner zu sein, lernte auch Arthur Abraham bald kennen. Er wurde Weltmeister im Mittelgewicht. Er gewann mit gebrochenem Kiefer. Er verlor durch Disqualifikation. Er wurde wieder Weltmeister. Er verlor den Titel wieder, auf einem Stuhl sitzend, ein Auge zugeschwollen. Er wurde wieder Weltmeister. Aufstieg. Fall. Aufstieg. Fall. Aufstieg. Das heißt auch: immer Quote. Mal trug er eine Schlumpfmütze, mal ließ er sich auf einem Thron in den Ring tragen. Er wurde ein reicher Mann, dessen Glanz auch auf das deutsche Boxen abstrahlte.

Aus dem Straßenschläger Pacquiao wurde ein spektakulärer Preisboxer, der Oscar De La Hoya, Ricky Hatton und Miguel Cotto in den Ringstaub schickte, Weltmeister in acht verschiedenen Gewichtsklassen wurde und lange als der über die Klassen hinweg beste Boxer der Welt galt. Er verdiente viel Geld, beim als "Kampf des Jahrhunderts" genannten Langweiler gegen Floyd Mayweather junior mehr als 150 Millionen Dollar. Er wurde ein reicher Mann, dessen Glanz auf das weltweite Boxen abstrahlte.

An diesem Samstag steigt Pacquiao in Las Vegas nach Abraham in den Ring, zum dritten Mal gegen Timothy Bradley, es soll der letzte Kampf seiner Karriere sein. Für das Profiboxen wäre es ein spürbarer Verlust, vor wenigen Monaten war ja erst Mayweather zurückgetreten. Und so stellt sich die Frage, ob das Boxen an sich selbst diese Geschichte vom Fall nach dem Aufstieg erleben muss. Ob eine Sportart seine Erzählkraft ausgereizt hat. Ob eine Sportart ernst genommen wird, die den Sport selbst lange nicht mehr ernst genommen hat.

Im Boxen bekommt nicht der Beste das meiste Geld - sondern der Lauteste

Ein Arschloch zu sein, das gehörte viele Jahre lang zu den geforderten Grundeigenschaften eines Profiboxers. Das hatte viel mit der Herkunft und dem schnellen Aufstieg zu tun, Abrahams Trainer Ulli Wegner etwa sagte: "Man muss sehen, wo einer herkommt - nicht jeder kann damit umgehen, dass er nun reich und berühmt ist." Es liegt aber auch daran, dass Preisboxen viel weniger Sport ist als vielmehr ein Teil des Showbusiness und gewiefte Manager Skandale sogar fördern.

Boxen ist keine Meritokratie, nicht der Beste bekommt das meiste Geld, sondern derjenige, der die Massen elektrisiert und zum Zuschauen bewegt. Das konnte über die kreative Beleidigung des Gegners geschehen, über einen Biss ins Ohr des Kontrahenten oder über wilde Eskapaden oder gar Straftaten außerhalb des Rings. In den USA gehört diese Geschichte des Aufsteigers zur DNA dieses Landes, die Andersartigkeit wird gepriesen und schlechtes Benehmen eher in Kauf genommen als in Deutschland.

Manny Pacquiao unterstützte mit seinen Einnahmen nicht nur seine Familie, sondern ein ganzes Land. Wenn er kämpfte, sank die Kriminalitätsrate auf den Philippinen auf nahezu null Prozent, alle wollten ihn sehen. "Die Philippinen verfügen über das beste Sozialversicherungssystem der Welt", sagte sein Manager Bob Arum mal: "Es heißt Manny Pacquiao." Sie lieben ihn dort, was immer er auch anstellt: Er betrog seine Frau, er hinterzog Steuern, er verlor viel Geld beim Wetten auf Hahnenkämpfe.

Ehrliche Kämpfer? Findet man kaum noch beim Boxen

Vor Kurzem sagte er in einem Interview: "Wenn wir gleichgeschlechtliche Ehe erlauben, dann ist der Mensch schlimmer als ein Tier." Zahlreiche Sponsoren, darunter Nike, kündigten die Zusammenarbeit. Auf den Philippinen dagegen waren all die Skandale egal, ein böses Wort über Pacquiao ist dort verboten: Wer gewinnt, der darf auch mal ein Arschloch sein.

In Deutschland dagegen waren die beliebtesten Preisboxer immer diejenigen, die sich zu benehmen wussten. Das fing an mit Max Schmeling, dem nicht einmal schaden konnte, dass Hitler seine Nähe gesucht hatte. Das steigerte sich bei der Neubelebung des Profiboxens in den Neunzigerjahren mit Henry Maske, der seine Karriere darauf aufbaute, weder sich noch den Gegnern besonders wehzutun. Sie nannten ihn: Gentleman. Danach kamen die Klitschko-Brüder, die beide einen Doktortitel haben, die ein paar Zaubertricks kennen, die sich in mehreren Sprachen unterhalten können.

Auch Abraham hat sich stets um ein seriöses Image bemüht, kleinere Vorfälle konnten diesem nicht schaden. Boxen wurde so auch zum Sport für die Intellektuellen, die am Ring Champagner trinken und darüber philosophierten, Boxen als Mischung aus Schach und Fechten zu betrachten. Aus einem Sport für harte Jungs wurde ein Event, geeignet auch für Reiche und Weiche.

Die coolen Typen, die ehrlichen Kämpfer, die Elektrisierer der Massen, die findet man daher heute nicht mehr unbedingt beim Boxen, sondern in der Mixed-Martial-Arts-Variante Ultimate Fighting Championship (UFC). Der Ire Conor McGregor ist einer der prägenden Protagonisten, in seinem Wohnort Hermosa Beach gibt er den harten Kämpfer mit dem goldenen Herzen: Er trinkt mit Fans ein Bier am Pier oder besucht sie daheim, wenn er eine irische Flagge auf dem Balkon entdeckt. Zwar halten viele Menschen UFC für ein wildes Gekloppe, weil es der alten Kampfregel widerspricht, dass ein am Boden liegender Gegner nicht attackiert wird.

Sauerland hat Ideen

Bei der Kombination aller Kampfsportarten müssen jedoch auch Bodentechniken berücksichtigt werden, also gehört das dazu. Im Ring attackieren sich zwei Kämpfer, so wie Pacquiao wohl seine Gegner auf den Straßen von Mindanao attackiert hat. Es ist spektakulärer als Boxen, es wirkt ehrlicher: Da hauen sich zwei Menschen die Fresse dick, danach geben sie sich die Hand. Es gibt kein Gedöns um Kampfrichter und Handschuhe und Verletzungen. Wer verliert, der hat verloren und hält die Schnauze.

Die UFC steht gerade in den USA kurz davor, das Boxen auszuknocken. Dem Boxen fehlen die Zuschauer, in Deutschland sind die Einschaltquoten auf wenige Millionen pro Kampf gesunken. Es fehlen die Kämpfe, in denen wirklich offen ist, wer gewinnen wird - so wie in den Siebzigerjahren, als sich Muhammad Ali, George Foreman und Joe Frazier als Schwergewichtsweltmeister abwechselten. So wie in den Neunzigerjahren, zu den Zeiten von Mike Tyson, Evander Holyfield und Lennox Lewis. Wer weiß heute schon die Namen aller Schwergewichtsweltmeister? Eben (Auflösung: Tyson Fury, Deontay Wilder, Charles Martin).

Die Kämpfe müssen oft mit dem Vorurteil leben, dass sie gelenkt werden; ein paar fragwürdige Entscheidungen der Punktrichter haben das Vertrauen der Fans zerstört. Im ersten Kampf zwischen Pacquiao und Bradley siegte der Amerikaner höchst umstritten.

Ein Nachfolger für Arthur Abraham? Nicht zu sehen

Kann das Profiboxen diesen Kampf gegen das verlorene Vertrauen gewinnen? Kann es die Zuschauer zurückgewinnen, die lieber zu den Käfigkämpfern gehen? Wird es, sobald es gefallen ist, aufstehen können? In den USA fehlt einer, der ähnlich beliebt werden könnte wie Pacquiao, in Deutschland wird das genauso sein, wenn Abraham in wenigen Jahren aufhört.

Einer, der dennoch fest an die Erzählkraft des Boxens glaubt, ist Kalle Sauerland. Er glaubt das schon von Berufs wegen, er ist der Promoter von Abraham, einer der letzten Geschichtenerzähler des Boxens. Sauerland hatte schon mehrere Ideen, um das Boxen zu retten, er organisierte zum Beispiel ein Turnier für Supermittelgewichtler (das tatsächlich so offen war, dass am Ende nicht Abraham gewann). Seine neue Idee ist es, dass das globale Boxen zusammenwachsen müsse. Sauerland betreut auch britische Boxer, sein Bruder Nisse skandinavische.

An diesem Samstag haben die Sauerlands erst eine Veranstaltung in Hamburg, dann Boxer bei einem Kampfabend in England, schließlich der Auftritt von Abraham in Las Vegas. Sauerland erzählt von den Nächten, die er als Kind vor dem Fernseher verbracht hat, diese Nächte will er jetzt für andere Kinder organisieren. Er glaubt an seine Boxer, daran, dass Kinder mit ihnen groß werden, dass sie sich identifizieren. Sauerland denkt an die Zukunft. Aber er erzählt: von gestern.

Pacquiao will Präsident werden

Ein Preisboxer, der seine Karriere beendet, kann danach mit seinem Leben anstellen, was immer er will - wer oft genug gewonnen und nicht alles in schnelle Autos und hübsche Frauen und harte Drogen investiert hat, der kann sich bis an sein Lebensende ausruhen. Was jedoch kaum einer ablegen kann, der ein Kämpfer war: das Kämpfen-und-Gewinnen-Wollen. Viele bleiben beim Boxen, sie werden Trainer, Kommentatoren oder übernehmen einen Boxstall. Manche treten als Karikaturen ihrer selbst im Theater oder in Werbefilmen auf, andere eröffnen Schnellrestaurants. Nur wenige sind dafür bekannt, einfach nur sie selbst zu sein.

Arthur Abraham, der einst lediglich mit der Plastiktüte anfing, hat sein Geld investiert, in Immobilien, in eine Fluglinie. Nicht immer lässt die Karriere danach einen Schluss zu, was für ein Kämpfer ein Boxer war. Manchmal schon. Pacquiao ist nun kein Boxer mehr, er will Politiker sein. Wie John "Old Smoke" Morrissey, der nach einer Laufbahn als Bareknuckle-Boxer im März 1871 in den amerikanischen Kongress einzog. Wie Witali Klitschko, der nun Bürgermeister von Kiew ist. Pacquiao will Präsident seines Landes werden. Er will das gebeutelte Archipel retten. Er will zumindest darum kämpfen. Und nicht verlieren.

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