In Osnabrück nennen sie Michael Hohnstedt "Kampfschwein", das gilt im Fußball als Kompliment. Der 27 Jahre alte Abwehrmann ist einer, der über die Emotionen ins Spiel kommt - sogar, wenn er nur Ersatzspieler ist. Am Montagabend war Hohnstedt Ersatzspieler, aber plötzlich stand er mittendrin in einem Skandal. Er machte sich mit den Reservisten des Drittligisten VfL Osnabrück hinter dem eigenen Tor warm, als in der 70. Minute Stürmer Davie Selke vom Pokalgegner RB Leipzig aufs Tor zustürmte.
Dem VfL Osnabrück droht nach dem Feuerzeugwurf im DFB-Pokal eine harte Strafe. Leipzigs Trainer Ralf Rangnick unterbreitet einen anderen Vorschlag.
Selke, für acht Millionen Euro aus Bremen zum neureichen Zweitligisten Leipzig gewechselt, wurde von VfL-Verteidiger Grassi sauber abgegrätscht, dann aber lief ihm der eigentlich unbeteiligte Hohnstedt entgegen. Es folgte ein hitziges Männergespräch - und als der Schiedsrichter hinzueilte, traf ihn ein Feuerzeug, das aus der Osnabrücker Fantribüne kam, am Kopf.
Die bitteren Folgen: Spielabbruch, Ernüchterung in Osnabrück - und ein Fall fürs Sportgericht des Deutschen Fußball-Bunds. Das wird spätestens zu Beginn der kommenden Woche entscheiden, wie das abgebrochene Spiel zu werten ist. Leipzig bot trotz der Aussicht auf einen Sieg am Grünen Tisch ein Wiederholungsspiel an: "Wir wollen sportlich in die nächste Runde, das entspricht unseren Wertevorstellungen", sagte RB-Trainer Ralf Rangnick. Ob das Angebot Einfluss auf das DFB-Urteil hat, ist aber fraglich.
Auf keinen Fall Bestand haben wird jenes Ergebnis, das im Stadion an der Bremer Brücke noch lange an der Anzeigetafel stand: 1:0. Bei 70:32 Minuten hatte die Uhr dort aufgehört zu laufen, denn Schiedsrichter Martin Petersen hatte die Partie unterbrochen, war mit einer Hand am verletzten Kopf in die Kabine verschwunden - und nicht mehr zurückgekehrt. Er erlitt eine leichte Gehirnerschütterung, es gehe ihm "den Umständen entsprechend gut" und er sei "bald wieder einsatzbereit", teilte die DFB-Pressestelle am Dienstag mit.
Zeitlupenbilder zeigen, dass der 30 Jahre alte Stuttgarter Petersen von einem roten Feuerzeug getroffen worden war. Wer und ob überhaupt jemand bewusst getroffen werden sollte, ist Spekulation - Petersen stand nur einen Schritt neben dem Leipziger Stürmer Selke, der exakt zehn Sekunden zuvor seine Chance vergeben hatte und danach beschimpft worden war.
Innerhalb von zwei Minuten hatten nach dem Vorfall alle Beteiligten das Spielfeld geräumt. 27 Minuten später betrat VfL-Präsident Hermann Queckenstedt den Rasen, um den ausharrenden Zuschauern und bangenden Osnabrücker Fans mitzuteilen, dass das Spiel abgebrochen, dies "der bitterste Tag" seiner Amtszeit und "diese Aktion schlecht für den VfL und für den Fußball" sei: "Ich entschuldige mich im Namen des VfL bei Schiedsrichter Martin Petersen", sagte Queckenstedt. Es folgte Applaus im ganzen Stadion.
Der Leipziger Trainer Rangnick weiß um das Image seines zahlungskräftigen Arbeitgebers und darum, mit welchen Gefühlen gegnerische Fans seinem Klub bisweilen begegnen: "Ich glaube nicht, dass wir mit unserer Art, wie wir gespielt haben, zu eskalierenden Dingen beigetragen haben", sagte Rangnick am Dienstag und betonte, dass es solche Zwischenfälle auch gebe, "wenn sogenannte Traditionsvereine gegeneinander spielen". Rangnick wiederholte sein Angebot, das Spiel zu wiederholen. Er sagte aber auch, dass die Atmosphäre in Osnabrück nicht erst in der Sekunde des fatalen Feuerzeugwurfs aufgeladen gewesen sei: "Das ganze Spiel über flogen Trinkbecher und Wurfgegenstände in Richtung unserer Spieler und Auswechselspieler."
Osnabrücks Chancen auf ein Wiederholungsspiel stehen trotz des Leipziger Entgegenkommens eher schlecht. Der Abbruch sei sowieso obligatorisch gewesen nach einer Tätlichkeit gegen den Schiedsrichter, teilte der DFB noch am Montagabend mit. Osnabrücks Trainer Maik Walpurgis hatte zunächst "im Sinne des Fußballs gehofft, dass der Vierte Offizielle übernehmen könnte". Das Feuerzeug flog eindeutig aus dem Osnabrücker Zuschauerblock - durch ein Schutznetz, das in der Halbzeitpause notdürftig repariert worden war, nachdem es schon in den ersten Spielsekunden unter der Last mehrerer Transparente und Plakate heruntergestürzt war.
Vor neun Jahren, als während der Pokal-Partie der Stuttgarter Kickers gegen Hertha BSC ein Linienrichter von einem gefüllten Bierbecher getroffen worden war, wurde die Hertha vom Sportgericht später zum Sieger erklärt. Mit einem solchen Urteil zugunsten der Leipziger könnte erneut zu rechnen sein. Sollte das Strafmaß nicht feststehen, könnte sogar die für Freitagabend geplante Zweitrunden-Auslosung verschoben werden: "Sie findet nur statt, wenn Rechtssicherheit vorliegt", sagte DFB-Medienchef Ralf Köttker dem sid.
Beim hoch verschuldeten VfL Osnabrück, der die Einnahmen und Prämien für einen Einzug in die zweite Pokalrunde äußerst gut gebrauchen könnte, fürchten sie nicht nur die Niederlage am Grünen Tisch, sondern auch weitere Sanktionen wie eine Geldbuße oder ein Zuschauerverbot. Denn der VfL spielte bereits auf Bewährung: Anfang Februar hatten Osnabrücker Fans in Münster Pyrotechnik angezündet und Polizisten attackiert. Der Verein musste 14 000 Euro Strafe zahlen.
Der Täter war zunächst nicht zu ermitteln. Die Osnabrücker Polizei hofft, ihn anhand von Videobildern zu überführen. Am Dienstag teilte der VfL mit, man habe das Feuerzeug sichergestellt. "Wenn wir den Täter finden, werden wir Konsequenzen ergreifen", so Präsident Queckenstedt.
