Speerwurf:Mit der Kraft von acht Armen

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Die Speerwerfer demonstrieren, was passieren kann, wenn Konkurrenten zusammenhalten.

Von Joachim Mölter, Berlin

Ungeheure Kräfte im Spiel: Thomas Röhler schleudert seinen Speer fast an die 90-Meter-Marke. (Foto: Tim Groothuis/Witters)

Letzter Durchgang, gleich wird das Speerwurf-Finale entschieden bei der Leichtathletik-EM im Berliner Olympiastadion. Die Bedingungen werden allmählich heikel an diesem Donnerstagabend, der für die Werfer so wichtige Wind frischt auf. In dem ehrwürdigen Gemäuer bläst er sowieso "aus verschiedenen Löchern", wird Thomas Röhler später erklären; der Sportstudent kann sich stundenlang mit den Facetten seiner Disziplin beschäftigen. "Durch das Marathontor kam ein starker Rückenwind, aber eigentlich war die Gesamtwetterlage ein Gegenwind", doziert Röhler anderntags, "dadurch kam es zu Kreiselbewegungen. Du hast also zwei, drei Luftebenen und zwei, drei Möglichkeiten, was du mit dem Speer anstellst."

Und weil Andreas Hofmann, auch er Student der Sportwissenschaft, nicht sicher ist, was er am besten mit seinem Speer anstellen soll in seinem letzten Versuch, in welchem Winkel er das 800 Gramm schwere Gerät in die Luft schicken soll, geht er halt mal rüber zum Kommilitonen Röhler und erkundigt sich, "wie ich den Speer besser ansetzen kann, um eine höchstmögliche Weite zu erzielen".

Bemerkenswert ist das deshalb, weil Hofmann zu diesem Zeitpunkt mit 87,60 Metern Zweiter ist und Röhler mit 89,47 Erster. Man muss sich das so vorstellen, als ob ein Fußballer im Elfmeterschießen eines EM-Finales den gegnerischen Torwart fragt, wie er ihn gleich am geschicktesten austricksen kann. Der Unterschied ist, dass Röhler seinem Rivalen eine ernsthafte Antwort gibt. "Wir haben kurz diskutiert", berichtet er, "und ich habe ihm dann verraten, was ich machen würde."

Der Tipp von Thomas Röhler, dem Olympiasieger aus Jena, hat Andreas Hofmann, den deutschen Meister aus Mannheim, letztlich nicht weitergebracht; an den Weiten und an der Reihenfolge änderte sich nichts mehr. Aber die Episode offenbarte einen Blick auf das Erfolgsrezept der deutschen Speerwerfer. "Wir teilen Wissen, wir stecken unsere Köpfe zusammen", sagt Röhler, der nun also auch Europameister ist: "Das Geheimnis ist, dass es keine Geheimnisse gibt."

Im Jubel vereint – nur die Medaillen unterschieden sich: Andreas Hofmann (links) und Thomas Röhler gewannen Silber bzw. Gold. (Foto: Sebastian Wells/imago)

Für Idriss Gonschinska, den Sportdirektor des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), ist die vom Bundestrainer Boris Obergföll geleitete Speerwurf-Abteilung eine Blaupause für alle anderen Sparten in seinem Verband, nicht nur, weil sie die meisten Medaillen einbringt. Zum Erfolg der Männer kam am Freitagabend ja noch der Titelgewinn von Christin Hussong bei den Frauen: Die 24-Jährige aus Zweibrücken schaffte gleich im ersten Versuch 67,90 Meter, eine persönliche Bestmarke und deutlich zu weit für die Konkurrenz an diesem Abend. Auch Hussong hatte zuletzt übrigens mit Röhler trainiert.

Sportdirektor Gonschinska führt diese geballte Stärke auf die vielen gemeinsamen Trainingscamps der Athleten und die Workshops für die Trainer zurück, die es seit Jahren gibt. "Es wird sehr offen diskutiert", hat er beobachtet. Obergfölls Philosophie ist, alles Wissen weiterzugeben: "Von mir erfährt jeder, was er wissen will", versichert der 44-Jährige, der zu seiner aktiven Zeit WM- und EM-Dritter war.

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(Foto: Bernd Thissen/dpa)

Eigentlich hätte es ein Dreikampf um den Titel werden sollen, doch Johannes Vetter blieb weit hinter den eigenen Erwartungen zurück.

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(Foto: Hendrik Schmidt/dpa)

Mit Gewalt wollte Vetter ein ums andere Mal den Speer an die 90 Meter schleudern, doch ein ums andere Mal schaute er vergeblich dem Wurf hinterher - am Ende blieb er auf Platz fünf stecken.

Thomas Röhler weiß, dass es für Außenstehende kaum zu verstehen ist, dass sich zwei Athleten, die um einen Titel kämpfen, unmittelbar vor dem entscheidenden Duell gegenseitig Tipps geben. "Aber wir machen das beim Training, wir machen es bei Meetings, warum sollen wir denn plötzlich damit aufhören?", sagt er: "Am Ende wollen wir alle, dass es einen deutschen Speerwurfsieg gibt."

Beinahe hätte es in Berlin sogar einen deutschen Dreifach-Erfolg gegeben, aber Johannes Vetter, der Weltmeister von 2017 und Weltjahresbeste dieser Saison, blieb bei Platz fünf stecken mit 83,27 Metern. Tags zuvor in der Qualifikation und auch beim Einwerfen hatte er einen starken Eindruck hinterlassen. "Er war übermotiviert", erklärte Obergföll, der auch Heimtrainer des Athleten von der LG Offenburg ist: "Er wollte im ersten Versuch gleich 95 Meter werfen, damit den anderen die Kinnlade runterfällt." Im Prinzip war der Plan der gleiche, der anderntags bei der Kollegin Hussong prima funktionierte. Weil sich Vetter aber mit aller Gewalt ans Werk machte, ging sein Timing verloren; das war nicht mehr zu beheben - bei allem Austausch, den die Akteure pflegen.

Cheftrainer Obergföll war auch mit Gold und Silber zufrieden, er findet ohnehin: "Das Miteinander im Speerwurf ist schon was Einzigartiges. Das würde man sich im Verband auch für andere Disziplinen so wünschen." Das Modell in anderen Disziplinen zu installieren, hält er grundsätzlich für möglich: "Es hängt an den handelnden Personen, man braucht jemanden, der das lenkt, der am Steuer sitzt", sagt Obergföll, der sich eher als Teamleiter versteht denn als Chef.

Trotzdem ist es schwierig, die vielen, teils widerstrebenden Interessen zu vereinbaren in einer Individualistensportart wie es die Leichtathletik nun mal ist, mit vielen unterschiedlichen Charakteren. Die findet man ja selbst bei den Speerwerfern: Thomas Röhler, besonnen, nachdenklich, schlanke Statur, 1,90 Meter groß, wenig mehr als 80 Kilo schwer, der vor allem von seiner Schnelligkeit lebt. Johannes Vetter, ein impulsives Kraftpaket, 105 Kilo auf 1,88 Meter verteilt, der mit viel Wucht unterwegs ist. Dazu der Gute-Laune-Bär Andreas Hofmann, größer (1,95) und schwerer (108) als die Rivalen, technisch ein Mittelding zwischen ihnen. "Wir sind Konkurrenten im Wettkampf und Freunde außerhalb", beschreibt Hofmann das Verhältnis. Röhler weiß, dass es nicht so einfach ist, unterschiedliche Persönlichkeiten zusammenzuschweißen: "Es ist ein langer Prozess, ein Speerwurf-Team aufzubauen."

Deshalb fangen sie jetzt auch schon beim Nachwuchs damit an: "Wir haben in Deutschland gerade extrem motivierte Junioren in der U20 und U18", hat Röhler beobachtet. Teamleiter Obergföll weiß, dass er diese Talente bei der Stange halten muss, wenn die aktuellen Erfolge nachhaltig wirken sollen. Seine drei Besten sind alle erst Mitte 20, sie haben noch ein, zwei, vielleicht sogar drei Olympia-Zyklen vor sich. Trotzdem dürfen sie nachrückenden Athleten nicht die Perspektive verstellen.

Nachdem sein Sieg feststand, hüpfte Thomas Röhler ins Wasserbecken der Hindernisläufer. (Foto: Matthias Hangst/Getty Images)

Nun haben die DLV-Speerwerfer das Glück, dass sie bei den nächsten Welt- und Europameisterschaften jeweils mit vier Vertretern antreten dürfen: Als Titelverteidiger sind Vetter bzw. Röhler startberechtigt, dazu kommen die üblichen drei Plätze, die jeder Nation zustehen, so dass ein weiterer Athlet dazustoßen kann. Zudem will Obergföll bei anstehenden Mannschaftswettbewerben wie Worldcup und Team-EM die Routiniers schonen und Talente ranlassen. "Die Jungen sollen ihre Chance bekommen", verspricht Obergföll.

Er will ja weiter die Konkurrenz schüren, bei aller Freundschaft. "Die sollen die Schwerter rausholen und kämpfen", fordert er von seinen Athleten. Dass sie angesichts der ständigen Erfolge satt werden, glaubt er nicht. Einer wie Andreas Hofmann sei gerade erst auf den Geschmack gekommen mit seiner ersten internationalen Medaille. "Satt sind die Jungs noch lange nicht", versichert Obergföll, "dazu ist die Konkurrenzsituation einfach zu groß."

© SZ vom 11.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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