Süddeutsche Zeitung

Speerwurf:Kuscheln und draufhauen

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Johannes Vetter beschafft dem deutschen Verband bei der WM in London den wohl einzigen Titel. Der 24-jährige profitiert auch von einer neuen Kultur des Austausches in seinem Ressort - und von einer mutigen Karriereentscheidung.

Von Saskia Aleythe, London

Johannes Vetter löste sich aus den Armen seines Trainers, rutschte von der Absperrung herunter und spannte die Muskeln an für die Kameras, die in London die Weltmeister ablichten. Zwischen Muskelspielen und Ja-Mann!-Ausrufen brach er immer wieder in Tränen aus. Schluchzen, Tränen wegwischen, Posieren, Klack! Schluchzen, Tränen wegwischen, Posieren, Klack! Die erste Goldmedaille für Deutschland bei dieser WM in London ging an den Mann, dem man zutrauen würde, dass er sie mit bloßen Zähnen zerbeißt. Und sich danach wieder an den nächsten Teamkollegen kuschelt.

Die deutschen Speerwerfer waren als wertvolle Fracht in London eingetroffen, sie durften nicht im Noro-Virus-verseuchten Hotel einchecken. Von Johannes Vetter, Thomas Röhler und Andreas Hofmann, den ersten Drei der Weltjahresbestenliste, erhoffte man sich viel. Am Ende gab es Gold für Vetter, der "stolz wie Bolle" war. Auf 89,89 Meter hatte er seinen Speer im ersten Versuch katapultiert, das reichte. Olympiasieger Thomas Röhler landete mit 88,26 Metern auf Rang vier, verdrängt von den beiden Tschechen Jakub Vadlejch (89,73) und Petr Frydrych (88,32). Hofmann wurde Achter (83,98). "Die Leistungen waren wirklich sehr, sehr dicht beieinander", sagte Röhler, der nie so recht in den Wettkampf fand. Sechs Zentimeter fehlten ihm, um Einlass aufs Treppchen zu erlangen, was auch Vetter ganz gut kennt: Bei Röhlers Olympiasieg vor einem Jahr verpasste er Bronze, um sechs Zentimeter.

"Ich glaube, die in Dresden werden sich jetzt gewaltig in den Arsch beißen", sagte Vetter.

Wer Röhler und Vetter nebeneinander sieht, erfährt einiges über ihren Sport, in dem viele Wege zum Erfolg führen. Röhler, 82 Kilogramm leicht und 1,90 Meter groß, sieht sich selbst als Tüftler, der auch schon mal per Drohne Luftaufnahmen von seinen Würfen macht. Vetter ist der Muskelprotz, mit 105 Kilogramm auf 1,88 Meter kommen die hohen Weiten bei ihm vor allem aus den Armen, die mächtig wirken und einen hübschen Widerspruch erzeugen: im Gesicht ist Vetter ein Bubi, in den Armen ein Zerstörer. "Ich bin eher der Haudrauf-Typ", sagt Vetter über Vetter, den Sportler. Im Draufhauen war er am Samstagabend nach seinem Titelgewinn aber noch in anderer Hinsicht aktiv. Die ersten Fernsehinterviews waren gelaufen, die Pressekonferenz hatte er noch vor sich, da mischte sich in die Freude des Weltmeisters auch Genugtuung. "Ich glaube, die in Dresden werden sich jetzt gewaltig in den Arsch beißen", sagte Vetter, "das sollen sie auch tun". Und im bisher größten Moment seiner Karriere kroch Verbitterung hervor.

Vetter, 24, ist in Dresden geboren und warf lange für den Dresdner SC, was aus seiner Sicht irgendwann nicht mehr zusammenpasste. "Ich wollte aus Sachsen weg", führte er fort, "meines Erachtens nach wurde ich meines Talents und meiner Leistung entsprechend nicht genug gefördert. Ganz einfach." Bei einem Trainingslager vor drei Jahren lernte er Boris Obergföll näher kennen, der damals schon Bundestrainer war. Nach zwei Wochen in Südafrika habe er schon Leistungssprünge gemacht, erinnerte sich Vetter, "die ich in Dresden gleich wieder verloren habe". Er war überzeugt, dass er in seiner Heimat nicht mehr vorankommen würde. "Boris war der erste, der das Potenzial in mir gesehen hat". Ein Umstand, der Vetter so schmeichelte, dass er 620 Kilometer Richtung Rhein zog, zur LG Offenburg. "Ich habe ihm gesagt: Ich will genau zu dir", erzählte Vetter nun, "Boris und ich haben uns einfach gefunden".

Heute wirft er bis zu 15 Meter weiter als in Dresden, vor einem Monat kam er in Luzern auf 94,44 Meter, deutscher Rekord. Nur Weltrekordler Jan Železný war mit dem neuen Speer je besser. Ein Leistungssprung, den Vetter mit den neuen Gegebenheiten bei den Obergfölls erklärt. Mit Christina trainierte er zusammen, bis die Weltmeisterin von 2013 vor einem Jahr ihre Karriere beendete. "Eine geile Trainingskollegin", sagt Vetter, "sie ist jetzt eine mentale Stütze und hat mir vorm Wettkampf geschrieben: Hol dir das Ding heute, du hast es so drauf, du hast es dir verdient." Sie habe ihm auch mal gesagt, dass er ehrgeiziger sei als sie es je war, und das, fand Vetter, "soll schon was heißen."

Profitiert hat er letztlich auch von den neuen Wegen des Boris Obergföll, der vor seiner Ehe als Boris Henry zweimal WM- Bronze gewann. 2008 trat er sein Amt als Bundestrainer mit einer simplen Forderung an: die Besten des Landes sollten ihre ertüftelten Erkenntnisse nicht geheim halten, sondern mit ihrem Wissen Handel betreiben. Obergföll zog sie in Workshops zusammen, teilte Leistungsdiagnostiken, stärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl. "Das hat acht Jahre gebraucht, um Trainer und Athleten zusammenzubringen", sagt er, aber das sei auch der Grund, "warum jetzt alles so abgegangen ist".

Auf Vetter, den Obergföll weiter als Heimtrainer betreut, war er in London besonders stolz, "nach dem Titel meiner Frau 2013". Zwei, vielleicht sogar drei Medaillen hatte er sich in London erhofft, gab er zu, "aber jetzt wollen wir mal nicht so sein". Vetter hätte gerne mit Röhler, 25, auf dem Podest gestanden, ihn beflügelt der neue Teamgeist, "es ist einfach geil, wie wir uns gegenseitig füreinander freuen". Die Leistungsdichte in der Welt bezeichnete er dann noch als "abartig" hoch, was ihn nicht an dem Fazit hinderte: "Ich denke, dass wir die Speerwurfwelt in den nächsten Jahren begeistern werden." Mit einem aktuellen Olympiasieger und Weltmeister im Team keine allzu gewagte Prognose.

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Quelle:
SZ vom 14.08.2017
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