Spaniens Fußball-Philosophie:Geister, die sie riefen

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Es begann mit Johan Cruyff: Erst als Spanien sich entschloss, vom blind attackierenden Stier zum Torero zu werden, triumphierte das Land im Fußball. Die neueste Entwicklung - Tiki-Takannacio - soll nun plötzlich des Teufels sein. Denn vor dem EM-Halbfinale gegen Portugal müssen sich die Spanier einer Konterrevolution erwehren.

Javier Cáceres

Im spanischen Quartier bei Gniewino, 70 Kilometer vor Danzig in den pommerschen Weiten gelegen, wuchs in den letzten Tagen die Irritation. Langweilig? Wir?, schien der strenge Blick von Mittelfeldspieler Xabi Alonso zu sagen, als internationale Medienvertreter an ihn herantrugen, was in Europa von Spaniens Fußballnationalelf gehalten wird.

Ein Blogger der Londoner Zeitung The Guardian setzte die Wortschöpfung "Tiki-takanaccio" in die Welt - ein Kompositum aus "Tiki-taka" - Bezeichnung für das spanische Kurzpassspiel - und dem "Catenaccio", der ultradefensiven Taktik der Italiener, die Trainer Helenio Herrera erdacht hatte. José Mourinho, Trainer von Real Madrid, lästerte, Spaniens Ballgeschiebe sei steril. In Spanien setzte sich der frühere Nationaltrainer Javier Clemente über die vermeintlich vorherrschende politische Korrektheit hinweg und sagte, ihn langweile der Stil der Nationalelf. Manchmal jedenfalls. Und der Fußballchef der Nachrichtenagentur Reuters verglich Spaniens Fußball mit der Ästhetik der Plattenbauten aus der Zeit des Kommunismus, die in der Ukraine herumstehen.

"Alle Meinungen sind respektabel", rang sich Xabi Alonso am Vorabend des EM-Halbfinales gegen Portugal ab, das an diesem Mittwoch ausgetragen wird. "Doch wir werden unseren Stil deswegen nicht ändern." Das hatte auch niemand erwartet. Denn dafür war der Weg, den die Spanier zurückgelegt haben, bis sie ihre eigene Spielphilosophie fanden, doch ein bisschen zu lang.

Nie zuvor und nie danach gab es eine so treffende und fußballideologische Debatten auslösende Metapher wie jene, die der argentinische Fußballtrainer César Luis Menotti in den achtziger Jahren formulierte. Spaniens Nationalelf, sagte Menotti, müsse sich entscheiden, ob sie Stier sein wolle oder Torero. In jenen Tagen war Spanien unter Nationaltrainer Clemente eher der Stier, der den Ball blind nach vorne drosch und hinterherrannte. Doch erst als Spanien sich entschloss, Torero zu werden, triumphierte das Land, im Vereins- wie im Nationalmannschaftsfußball.

Nicht nur das: Es bezauberte. Und installierte einen fußballerischen Diskurs, der in ganz Europa die Hoheit erlangt hat. Ob Spanien, Deutschland, Portugal oder Italien - alle EM-Halbfinalisten frönen mehr oder minder dem ballbesitzorientierten Fußball, den die Spanier vorgelebt haben, und der oft so komplex wirkt, weil er mit wissenschaftlichen Begriffen wie "ballnahen Füßen" und "systemischem Spiel" beladen ist. Dabei folgt er, wie es der Fußballautor Miguel Rico ausdrückt, "einer kindlich anmutenden Logik" - der kindlichen Logik von Johan Cruyff, mit dem Rico 1993 das Buch "Mis futbolistas y yo" verfasste (Meine Fußballer und ich). Es liest sich in Teilen wie ein Manifest.

Zumindest sind dort die beiden programmatischen Sätze zu finden, die wohl die größte Revolution ausgelöst haben, die es in den letzten Jahrzehnten im Weltfußball gegeben hat. Sinngemäß lauten sie, erstens: Wenn du den Ball hast, hat ihn der andere nicht. Und zweitens: Wenn du den Ball gut stoppen und weiterspielen kannst und ausreichend Geduld hast, wirst du irgendwann zwangsläufig zu Torchancen und Toren kommen.

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Cruyff, der nach seiner Glanzzeit bei Ajax Amsterdam in den siebziger Jahren schon als Spieler beim FC Barcelona erfolgreich war, wurde mit demselben Klub als Trainer in den neunziger Jahren mehrmals Meister, holte den Europapokal der Landesmeister und sorgte dafür, dass sich "in Spanien die Liebe zum Ball und zur Technik durchsetzte. Sie ist zur Richtschnur jeder Mannschaft geworden, die ein Minimum an Ambitionen hat". So formuliert es Jorge Valdano, ein früherer Weltmeister aus Argentinien, der auch als Fußballpoet berühmt wurde. Mittlerweile sei es so, dass das Publikum einen Anspruch auf guten Fußball erhebe: "Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass ein Spieler den Ball zu einem Spieler der eigenen Mannschaft weiterspielt, dass jede Ungenauigkeit als Vaterlandsverrat empfunden wird."

Hat den Fußball revolutioniert: Johan Cruyff (Mitte). (Foto: AFP)

Die Cruyff'schen Prinzipien, die ihrerseits auf den Lehren von Ajax-Trainern wie Stefan Kovacs und Rinus Michels basierten, wurden in den vergangenen Jahren in vielfacher Hinsicht zur Vollkommenheit gebracht. Spaniens fußballerisches Bildungssystem ruht auf den Grundlagen der Ajax-Schule. Es wurde so perfektioniert, dass eine ganze Generation von Spielern selbst bei höchsten athletischen Ansprüchen noch eine traumwandlerische Ballsicherheit zeigt.

Taktisch und strategisch setzten Frank Rijkaard und Josep Guardiola als Trainer beim FC Barcelona sowie Spaniens früherer Nationaltrainer Luis Aragonés noch einen drauf. Ähnlich wie der FC Barcelona versucht Spaniens Nationalelf, das Spiel komplett in der gegnerischen Hälfte zu bestreiten. Einerseits durch das sichere Passspiel, das den Gegner physisch und mental zermürbt, weil es ihn zwingt, ständig dem Ball hinterherzurennen. Andererseits: Wenn die Spanier doch einmal den Ball verlieren sollten, dann laufen sie nicht zurück, sondern machen eher einen Schritt nach vorne und versuchen, den Ball weit vom eigenen Strafraum entfernt wieder zu erobern.

Dass das nun alles des Teufels sein soll, eben Tiki-takanaccio, hat auch mit dem Unverständnis über eine gar nicht mal so neue taktische Variante zu tun. Die Spanier verzichten immer wieder auf einen "echten" Mittelstürmer, weil gemäß ihrer Philosophie der gegnerische Strafraum nicht "besetzt", sondern nur noch zum Torabschluss "betreten" wird.

Vor allem aber leiden die Spanier an den Geistern, die sie riefen. Beziehungsweise daran, dass Spaniens Revolution eine Konterrevolution hervorgerufen hat. Denn immer mehr Mannschaften folgen dem Beispiel des FC Chelsea. Die Briten waren in diesem Jahr gegen den FC Barcelona (und gegen den FC Bayern München) in der Champions League erfolgreich, indem sie, um den Argentinier Menotti zu paraphrasieren, reaktionären Fußball spielten, mit nahezu undurchdringlichen, statischen Verteidigungslinien. Spaniens "Chefscout" Paco Jiménez zeigt sich schon entnervt. Seine Berichte über die Kontrahenten landen im Papierkorb, denn Spaniens Gegner spielen selbst dann überaus defensiv, wenn sie eigentlich ihre Stärken in der Offensive haben.

In ihrem teaminternen Tippspiel haben die meisten der 23 spanischen Nationalspieler übrigens auf Deutschland als Finalgegner gesetzt. Das dürfte einem innerlich gehegten Wunsch entsprechen. Sie wissen, dass die Deutschen unter dem Trainer Joachim Löw einen ähnlichen Fußballansatz verfolgen. Und das bedeutet, dass Deutschland der Gegner ist, gegen den man noch am ehesten Fußball spielen kann.

© SZ vom 27.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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