Spanien und Italien spielen Remis:Italien verblüfft stürmerlose Spanier

Titelverteidiger Spanien treibt die Vorliebe für kleine, wendige Spieler auf die Spitze und agiert gegen Italien zunächst ohne Stürmer. Die Italiener verblüffen mit einer aggressiven Defensivtaktik, schnellen Vorstößen - und am Ende mit einem 1:1. Den wahren Schuldigen für das Unentschieden hatten die Spanier schon während der Partie gefunden.

Iker Casillas hatte schlechte Laune. Er kniete auf der Linie, gerade war ein Ball gefährlich auf das Tor gekommen, auf sein Tor, das Tor des Weltmeisters, des Titelverteidigers bei dieser Europameisterschaft. Casillas, der spanische Torwart, schaute also mürrisch zu den Verteidigern vor ihm auf, was das denn solle, sagte sein Blick.

Italy's Di Natale scores goal past Spain's Casillas during Euro 2012 soccer match in Gdansk

Schlenzer zur Führung: Antonio Di Natale schießt an Iker Casillas vorbei zum 1:0 für Italien.

(Foto: REUTERS)

Spanien spielte gegen Italien, es waren gerade einmal 22 Minuten vorbei, doch die Italiener, der Außenseiter, hatten die besseren Torchancen. Casillas war also beunruhigt. Es folgten dann noch 68 hochklassige Minuten, und Casillas Gefühl wurde nicht getäuscht. Italien trotzte Spanien ein 1:1 (0:0) ab. Nur ein Unentschieden.

Dass die Italiener tatsächlich auch noch Fußball spielen können, das war in den Wochen vor der EM etwas untergegangen, es ging ja vor allem um die Wettaffäre in der italienischen Liga Serie A. Gianluigi Buffon war in der öffentlichen Wahrnehmung eher Wettsüchtiger als Torwart, Verteidiger Leonardo Bonucci wurde gar von der Staatsanwaltschaft verhört. Der letzte Versuch, Fußball zu spielen, ging dann auch noch reichlich schief, Italien verlor das Testspiel gegen Russland 0:3. Das also sollte alles gegen Spanien vergessen sein, was natürlich so nicht möglich war, immerhin spielten sowohl Buffon als auch Bonucci.

Doch zumindest in der ersten Halbzeit hatten die Italiener das Spiel unter Kontrolle. Zum einen lag das an der eigenen Taktik, das Team von Trainer Cesare Prandelli wählte eine defensive Formation, die den Spaniern wenig Räume für ihr berüchtigtes Kurzpassspiel lassen sollte. Sobald der Titelverteidiger in Ballbesitz war, wurde aus der Dreierkette vor Buffon eine Fünferkette, davor postierten sich noch drei Mittelfeldspieler.

Zum anderen lag es aber auch an der Taktik der Spanier. Dem Team fehlt in David Villa, dem Torschützenkönig der EM 2008, der wichtigste Stürmer aufgrund eines Schienbeinbruchs. Statt aber nun auf Fernando Torres vom FC Chelsea zu setzen, entschied sich der spanische Trainer Vicente del Bosque auf eine höchste ungewöhnliche Taktik: Er verzichtete ganz auf einen Stürmer. Auf dem Spielberichtsbogen war zwar Cesc Fabregas ganz vorne eingetragen, auf dem Platz ließ sich der Mittelfeldspieler aber immer wieder fallen.

Ohne Stürmer also gegen diesen Defensivblock, das trieb die spanische Vorliebe für kleine, wendige Spieler auf die Spitze. Und so passten sie sich auch verliebt den Ball zu, sie drehten sich um sich selbst und manchmal auch um einen Italiener, aber gefordert wurde Buffon im ersten Durchgang nicht ein Mal. Gelegentlich versuchten sie es sogar mit Flanken. Eine irrwitzige Idee, gegen diese hohen italienischen Verteidiger.

Der Rasen war schuld

Prandelli dagegen vertraute zwei Stürmern, Antonio Cassano und Mario Balotelli, ebenfalls ungewöhnlich in den Zeiten des Ein-Mann-Sturms. Doch indem sie aus ihrer Defensive schnörkellos nach vorne spielten, ergaben sich häufig Überzahlsituationen. "Wir wollten nicht nur hinten drin stehen", sagte Prandelli, "die Mannschaft hat sich an meine Anweisungen gehalten, wir haben ein gutes Spiel gemacht." So parierte Casillas einen Freistoß von Andrea Pirlo (13.), wenige Sekunden vor Ende der ersten Halbzeit wehrte er glänzend einen Kopfball von Cassano ab. Immer wieder wurde dabei offensichtlich, wie verwundbar die spanische Abwehrreihe ist, der ein wesentlicher Stabilisator fehlt: der ebenfalls verletzte Carlos Puyol.

In der zweiten Halbzeit spielten die Spanier weiter ohne Stürmer, aber sie erhöhten nun das Tempo. "In den zweiten 45 Minuten hat sich das Spiel geöffnet", sagte Vicente del Bosque.In der 50. Minute testete Fabregas mit einem Fernschuss erstmals, ob Buffon gut drauf war. Buffon war gut drauf: Er parierte sicher.

In der 57. Minute wurde dann ein Stürmer eingewechselt. Bei den Italienern. Für Balotteli kam Antonio Di Natale - und der Angreifer von Udinese Calcio traf mit der ersten Ballberührung. Andrea Pirlo legte vor, Di Natale spitzelte den Ball ins lange Eck, so einfach kann das mit dem Toreschießen sein (60.).

Einfach ist aber nicht der Anspruch, den die Spanier an das Toreschießen stellen, schön soll es sein, elegant, majestätisch. Diese ästhetische Einzigartigkeit demonstrierten die Spieler des Turnier-Favoriten vier Minuten nach dem Rückstand. David Silva erhielt den Ball, um ihn herum standen nur blaue Verteidiger.

Silva schaute kurz auf, dann schnippelte er den Ball in den Strafraum, zwischen drei Italienern durch, in den Lauf von Fabregas, der etwas Außergewöhnliches machte: Er verwandelte eiskalt. "Was uns wirklich enttäuscht, ist die Tatsache, dass sie so schnell zum Ausgleich gekommen sind", ärgerte sich Prandelli.

In der 74. Minute wechselte del Bosque dann doch Torres ein. Und schon mit dem ersten Ballkontakt sorgte dieser für Gefahr und verwickelte Buffon in einen Zweikampf. Buffon siegte, aber er war ja auch gut drauf. Mit Torres hatten die Spanier nun vorne eine Anspielstation, der die müder und müder werdende Abwehr dauerhaft beschäftigte.

In der 85. Minute etwa sah Torres, dass Buffon zu weit vor dem Tor stand, er lupfte, schön und elegant - aber der Ball flog über die Latte. Und so scheiterte der Favorit scheiterte am Anspruch an die eigene Schönheit. "Das war ein schweres Spiel gegen den schwersten Gruppengegner", sagte Fabregas, "das Remis ist nicht schlecht, mit zwei Siegen können wir immer noch Gruppensieger werden. An einem guten Tag sind wir nicht zu schlagen." Del Bosque sagte dagegen: "Ob das 1:1 ein gutes Ergebnis ist, wird sich in den nächsten Spielen zeigen."

Den Schuldigen für das Unentschieden hatten die Spanier schon während der Partie gefunden, sie legten auch gleich Protest beim vierten Offiziellen ein: Der Rasen sei zu hoch, zu stumpf, zu trocken gewesen.

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