Die Welt ist voller Ratgeber für Führungskräfte, und diese sind wiederum voller Hinweise darauf, wie wichtig Empathie sein kann. Gut möglich, dass auch Spaniens Nationaltrainer Luis de la Fuente derartige Werke konsumiert hat. Wichtiger freilich ist: Er lebt sie.
Wer De la Fuentes Schaffen länger verfolgt, kann etwa von einer Begebenheit am Rande der U21-Europameisterschaft 2019 in Italien erzählen, als er einem Spieler, der damals als hoffnungsvollster Verteidiger Spaniens galt, beigebracht hatte, dass er nicht spielen würde: Jorge Meré, seinerzeit beim 1. FC Köln und zuletzt beim FC Cádiz aktiv.
Meré, heute 27, streunte geknickt und allein durch die Lobby des Hotels im italienischen Udine, in dem Spaniens U21-Auswahl untergebracht war – von De la Fuente auf Schritt und Tritt verfolgt. Der Trainer der „Rojita“, der kleinen Roten, wollte zwar nicht seine Entscheidung revidieren, aber zumindest das Leiden Merés verringern – und damit auch sein eigenes.
Denn leiden, das tut er vor jedem Spiel, auch vor der Partie, die am Donnerstag in der EM-Vorrundengruppe B in Gelsenkirchen gegen Italien ansteht. Er betrachte jedes Spiel, „als wäre es mein letztes“, denn nur wenn man glaube, dass man „vor der letzten Chance des Lebens steht“, gehe man Aufgaben „mit dem Maximum an Energie“ an, sagte De la Fuente einmal in einem Interview mit der Zeitung El País. Es erschien kurz nach seiner Ernennung zum Nationaltrainer, die nach der WM 2022 in Katar erfolgte. Vorgänger Luis Enrique hatte jenes Turnier in den Sand gesetzt; tausend Pässe hatten im Achtelfinale gegen Marokko zu keinem einzigen Tor geführt und schließlich zum Aus im Elfmeterschießen.
Für De la Fuente war es die Krönung einer über zehnjährigen Karriere als Nachwuchstrainer, die ihn nach einer Reihe von Stationen im unterklassigen Fußball Spaniens zum Europameister mit der U19 sowie U21 machte, zudem zum Silbermedaillengewinner der Olympischen Spiele von Tokio. Und Zufall oder nicht: De la Fuente stand in seinem neuen Amt tatsächlich schon ein paar Mal vor seiner angeblich letzten Chance. Zum Beispiel, als er im März 2023 das EM-Qualifikationsspiel gegen Schottland verloren hatte (0:2). Oder nachdem er der berühmten Verteidigungsrede des früheren Verbandspräsidenten Luis Rubiales („ich trete nicht zurück!“) öffentlich applaudierte.
Seine einzig bekannte Kraftmeierei ist sein Hang dazu, im Fitnessstudio Gewichte zu heben
Rubiales musste wenig später gehen. Selbst als De la Fuente sich im Amt stabilisiert hatte, musste er mit den Augen gerollt haben. Als sein Vertrag bis zur WM 2026 verlängert wurde, tauchte die Frage auf, ob der Kontrakt gültig war – das Interimspräsidium habe seine Kompetenzen überschritten, hieß es, weil eine derart weitreichende Entscheidung einem ordentlich gewählten Präsidium obliege. Fürs Erste wird jedenfalls nicht an ihm gerüttelt. Am Samstag überzeugten die Spanier beim 3:0 gegen Kroatien.
Dass in der Vergangenheit der eine oder andere Zweifel an De la Fuente keimte, lag wohl auch an fehlender Lobby. Er zählt nicht zu den wortgewaltigen Vertretern seiner Zunft; er formuliert nicht den Anspruch, das Spiel der Spanier zu revolutionieren. Er hat aber, wie gegen Kroatien zu sehen war, dem Spiel eine größere Geradlinigkeit untergemischt. Ballbesitz als Selbstzweck hat ausgedient. Mit dem lautmalerisch als „patapúm parriba“ definierten Stil, der gemeinhin mit De la Fuentes größten Erfolgen als Spieler in Verbindung gebracht wird, hat seine Lehre als Trainer aber nichts zu tun. „Patapúm parriba“ steht für das Kick & Rush, das von Javier Clemente bei Athletic Bilbao gepflegt wurde.
Unter Clemente wurde De la Fuente nicht nur als überaus passabler Linksverteidiger bekannt, sondern auch zweimal spanischer Meister, 1983 und 1984. In der Kabine nannten sie ihn „Tarantini“, weil er damals lockige Haare hatte wie der argentinische Weltmeisterverteidiger von 1978. Im Gegensatz zum echten Tarantini trug De la Fuente allerdings auch einen Schnurrbart, mit dem er passabel in einem Spaghetti-Western als Komparse hätte dienen können. Als Athletic im Sommer 1984 das Double gelang, war De la Fuente auch dabei. Das ist vor allem erinnerlich, weil es in einer nicht jugendfreien Schlägerei endete, mit eingesprungenen Kung-Fu-Tritten von Barcelonas Diego Maradona inklusive. Von De la Fuente heißt es, er habe sich um einen bewusstlosen Mitspieler namens Sole gekümmert.
Das würde zum Bild passen, das man heute von De la Fuente bekommen muss. Die einzig bekannte Kraftmeierei der Gegenwart ist sein Hang dazu, im Fitnessstudio Gewichte zu heben. Er gilt als zurückhaltend, verbindlich und rechtschaffen, sodass ihn der frühere Chefredakteur der Zeitung As einmal mit dem Torero El Viti verglich: El Viti galt als so rechtschaffen, dass ihm nachgesagt wurde, er bestelle die Stiere nicht in die Arena, sondern vor Gericht ein.
De la Fuente selbst gilt übrigens als großer Stierkampffreund; gerade in Sevilla liebte er es, in die Arena zu gehen. In der andalusischen Hauptstadt spielte er auch einige Jahre – und legte auch dort Zeugnis seiner Empathie ab: Er, der in La Rioja im weit entfernten Nordspanien geboren wurde, habe nach zwei Wochen „Sevillanas“ getanzt, die von Kastagnetten begleiteten Tänze der Andalusier – was etwa so ist, als würde ein Ostfriese nach zwei Wochen in Bayern schuhplatteln.