Süddeutsche Zeitung

Spanien-Bezwinger Chile:Pisco als Digestif

Die Chilenen haben gegen Spanien gezeigt, dass sie jedem Gegner gefährlich werden können. Nun ist die Frage, ob sie auch sich selbst gefährlich werden. Seit Jahren nagt ein fußballerischer Minderwertigkeitskomplex an dem Land - der jetzt in Euphorie umschlägt.

Von Javier Cáceres, Belo Horizonte

Am 15. Oktober 2013 war nicht abzusehen, was sich am Mittwoch, 18. Juni 2014, im Maracanã-Stadion abspielen sollte. Es war nicht einmal ausgelost, dass Chile gegen Spanien spielen würde. Chile hatte sich gerade mit einem 2:1 gegen Ecuador für die WM in Brasilien qualifiziert, mithin Historisches erreicht, weil Chile seit 1966 nicht zwei Mal nacheinander an einer WM teilgenommen hatte. Während die Fans vom Nationalstadion zur Plaza Italia strömten, saß Trainer Jorge Sampaoli im Pressesaal des Stadions und bat um Demut. "Wir werden dort auf Mannschaften treffen, die in der hierarchischen Ordnung des Fußballs über uns stehen, und ich habe keine Erfahrung bei einer WM."

Seit Mittwoch ist Sampaoli um die Erfahrung von 180 WM-Minuten reicher. Er hat nicht bloß seine Mannschaft fürs Achtelfinale qualifiziert. Sondern den Welt- und Europameister Spanien aus dem Maracanã-Stadion wieder Richtung Flughafen geschickt: Husch, husch, zurück in die Alte Welt. Eure Ära ist vorbei.

Er könne nicht sagen, ob dies der größte Triumph in Chiles Geschichte sei, das werde die Zeit noch zeigen, sagte Sampaoli am Mittwoch. "Was ich wirklich schätze, ist, dass meine Mannschaft in all der Zeit, in der ich Trainer bin, gegen wirklich jeden Gegner eine große Beständigkeit gezeigt hat. Gegen Spanien von Angesicht zu Angesicht zu spielen, ist so einfach nicht", sagte der Argentinier. Die Träume der Chilenen haben derweil die Flughöhe des Condor erreicht - irgendwo über den Wipfeln der Kordilleren.

Anerkennung aus fernen Ländern

Fans und Medien fragen sich, ob sie die maßlose Ambition von Nationalspielern wie Mittelfeldspieler Arturo Vidal von Juventus Turin ("Ich will Weltmeister werden!") oder Alexis Sánchez vom FC Barcelona ("Ich träume seit meiner Kindheit davon, Weltmeister zu werden") nicht vorschnell als realitätsfern angesehen haben. Sampaoli versuchte, die Schwärmereien zu bremsen. "Weltmeister zu werden ist ein Gedanke, der mir nicht durch den Kopf geht, es gibt hier viele Mannschaften auf einem sehr hohen Niveau", sagte er. Einerseits. Andererseits gestand er auch ein: "Wir sind für jeden gefährlich."

Interessant dürfte nun allerdings die Frage werden, ob die Chilenen auch sich selbst gefährlich werden. An ihnen nagt schon seit Jahren ein fußballerischer Minderwertigkeitskomplex, nun müssen sie ertragen, dass auf ihren Schultern gerubbelt wird wie noch nie. Die Lobeshymnen prasseln längst nicht mehr nur aus der Heimat auf die Teilnehmer der chilenischen Auslandsmission ein, die Anerkennung kommt nun auch aus fernen Ländern - und wird in der Heimatpresse in gigantische Schlagzeilen umgesetzt. "Für mich ist Chile die beste Mannschaft der WM", sagte etwa der Niederländer Ronald Koeman, Europameister von 1988.

Die frühere argentinische Legende Diego Maradona, zurzeit für die venezolanische TV-Station TeleSur im Einsatz, ließ für seine Sendung "De Zurda" ("Mit Links") eine Schalte zu Sampaoli bauen und säuselte, er, der unvergleichliche Diego, sei "froh" darüber, wie die Chilenen gespielt hätten. "Sie haben Sampaolis Botschaft verstanden, dass man bei jedem Kampf um den Ball wirklich jedem Spieler Spaniens in die kurze Hose beißen muss." In der Sprache der Protagonisten klang das konventioneller, aber nicht anders: "Wir haben unsere Krallen ausgefahren", sagte Stürmer Alexis Sánchez.

Besonders gut zu beobachten war dies beim ersten der beiden Treffer, es war ein Klassiker der Balleroberung nach der Bauart Sampaolis. Die Chilenen erkannten den Moment der Verwundbarkeit von Spaniens Mittelfeldstrategen Xabi Alonso: Er stand mit dem Rücken zum gegnerischen Tor, ohne rechte Orientierung, als ihn ein Bataillon hinterrücks angriff, sich des Balles bemächtigte und einen grandiosen Konter einleitete. Erst wanderte das Spielgerät nach rechts, dann wurde der Abschluss auf der gegenüberliegenden Seite gesucht: Stürmer Eduardo Vargas stand schließlich am Ende einer reißbrettartigen Überfallkette (20.) und durfte das Tor seiner künftigen Tochter widmen.

Das Tor ließ die Spanier unter der Last der Verantwortung endgültig zusammenbrechen. Dass Mittelfeldspieler Charles Aránguiz von Internacional Porto Alegre noch das 2:0 erzielte (43.), trug die Züge einer Zwangsläufigkeit, mit der zwischen Feuerland und Atacama-Wüste der Pisco als Digestif gereicht wird. Pisco ist für die Chilenen so etwas wie Muttermilch, allerdings mit einem Alkoholgehalt von 38 Prozent an aufwärts.

"Dies ist etwas Gigantisches für uns und das ganze Land, ein historischer Coup", sagte Torwart Claudio Bravo, der künftig beim FC Barcelona unter Vertrag stehen wird. Er widmete den Triumph übrigens einem seiner Vorgänger im Nationalmannschaftstor: Roberto Rojas, der sich 1989 bei einem Qualifikationsspiel im Maracanã-Stadion mit einer Rasierklinge die Stirn aufgeschlitzt hatte, um einen Sieg am grünen Tisch zu erzwingen. Unmittelbar zuvor war neben ihm ein Feuerwerkskörper niedergegangen, den eine Brasilianerin aufs Feld geschossen hatte.

Nun ist die Erinnerung an jene Schmach, die mit der Sperre des ganzen Landes für zwei WM-Teilnahmen quittiert wurde, gelöscht - durch einen Maracanazo neuer Prägung. Maracanazo wurde jener überraschende Sieg Uruguays bei der WM 1950 in und gegen Brasilien genannt, der die Gastgeber damals um den WM-Sieg brachte. "Die Leute mögen das hier einen Maracanazo nennen, wir nennen es Teamarbeit", sagt Jorge Valdivia, der in Brasilien bei Palmeiras spielt, gegen Spanien aber lange auf der Bank sitzen musste, weil er in der Defensivarbeit weit weniger aggressiv zur Sache geht als die Kollegen.

Zum Beispiel Marcelo Díaz vom FC Basel, der wieder in seiner Rolle als umsichtiger Organisator im Mittelfeld gefiel: "Wir haben noch nichts erreicht, also haben wir nicht gefeiert." Das wiederum erledigte die Verwandtschaft daheim - unter anderem an der Plaza Italia. Die Stadtverwaltung Santiagos beklagte die Brandschatzung von 527 Linienbussen und die spontane Umbenennung der Avenida de los Conquistadores, die den spanischen Eroberern gewidmet wurde. Sie heißt nun Avenida Eduardo Vargas.

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SZ vom 20.06.2014/bero
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