Snowboarderin Anna Gasser:Gewagte Sprünge ins Ungewisse

Snowboard - Winter Olympics Day 10

Die Lust abzuheben: Anna Gasser fliegt bei den Olympischen Spielen 2018. In Pyeongchang gewann sie den Big-Air-Wettkampf.

(Foto: Dan Istitene/Getty Images)
  • Anna Gasser ist Snowboard-Olympiasiegerin und landete als erste Frau einen dreifachen Rückwärtssalto mit halber Schraube.
  • Sie ist ständig dabei, gegen Schwerkraft und Vorurteile zu rebellieren.
  • Gasser sagt: "Ich will nicht das Notwendigste. Ich will das Beste."

Von Johannes Knuth

Die Entscheidung fiel erst in den letzten Minuten, sagt Anna Gasser, ganz spontan. Erst als sie alles geprüft hatte, Wind und Wetter auf dem Gletscher, Anlaufspur, Beschaffenheit des Kickers, Bindung und Snowboard, erst als alles passte und sie das Gefühl hatte, dass sie wirklich bereit war für diesen monumentalen Sprung, fasste sie den Entschluss: dass sie jetzt ein wenig Sportgeschichte schreiben würde.

Im Grunde war das alles so nicht ganz geplant gewesen, zumindest nicht neulich, bei dieser Trainingseinheit auf dem Stubaier Gletscher. "Eigentlich macht man so etwas später in der Saison", sagte Gasser; wenn so früh etwas schiefgehen würde, wäre ja alles zerbröselt, der ganze Winter, die WM im kommenden Februar. Aber wenn Gasser von etwas überzeugt ist, dann verschreibt sie sich dem mit aller Kraft, und so probierte sie ihn halt schon damals, den Cab Triple Underflip 1260, einen dreifachen Rückwärtssalto mit halber Schraube.

Es gibt ein Video davon, man sieht, wie Gasser lächelt, bevor sie losfährt, wie ein Kind, das gleich sein Geburtstagspräsent auspackt. Dann wirbelt sie durch die Luft, dreimal rückwärts mit Schraube, und landet sicher, als erste Snowboarderin überhaupt.

"Ich habe schon meine Ziele, aber keinen genauen Plan"

Kaum eine olympische Disziplin hat sich in den vergangenen Jahren so massiv entwickelt wie das Freestyle-Snowboarden, und kaum eine Athletin steht für diesen Trend wie Anna Gasser, 27, aus Millstatt in Österreich, die ihren Spaß daran gefunden hat, gegen Schwerkraft und Vorurteile zu rebellieren. Als die Szene vor fünf Jahren glaubte, eine Frau werde nie zwei Rückwärtssaltos mit Drehung schaffen, sprang sie zwei Saltos mit Drehung. Als es hieß, bei zweieinhalb sei Schluss, stand sie zweieinhalb. Als sich alle einig waren, dass drei Saltos nun wirklich die Grenze seien, widerlegte sie auch das.

Gasser hat auch sonst so ziemlich alles gewonnen in ihrer Lieblingsdisziplin, dem Big Air, einem Sprung über einen großen Kicker: WM-Gold 2017, die Weltcup-Gesamtwertung der Freestyler, Gold bei den Olympischen Winterspielen im vergangenen Februar. "Ich habe schon meine Ziele, aber keinen genauen Plan", sagt Gasser, so habe sie es fast immer gehalten: "Mein Ziel ist es, einfach besser zu werden. Da setzt man sich automatisch keine Grenzen."

Ein paar Wochen nach ihrem Eintrag in die Sportgeschichtsbücher erzählt Gasser am Telefon, wie das so ist, die Grenzen in ihrem Sport zu verschieben. Sie spricht über die drei Rückwärtssaltos, die sie schon Ende des vergangenen Winters schaffen wollte, obwohl ihr das nur wenige zutrauten. "Wenn ich mir manche Jungs anschaue, die das schon geschafft haben", sagt Gasser, "sind die auch nicht viel kräftiger gebaut als ich. An physikalischen Grenzen kann es also nicht liegen." Sie tat das, was sie vor jedem großen Vorhaben tat, zerlegte den Sprung in seine Einzelteile, studierte ihn auf dem Trampolin, dann auf dem Landekissen. Und schließlich, als sie dieses Kribbeln spürte, das von Vorfreude und dem eigenen Können kündet, nachdem sie den Sprung noch einmal in Gedanken durchgegangen (und natürlich gelandet) hatte, probierte sie es im Schnee. Der eigene Kopf kann die größte Hürde eines Sportlers sein, oder die größte Hilfe.

Gasser musste zähe Jahre durchstehen

Dass Gasser es einmal so weit bringen würde, war logisch und irgendwie auch nicht. Sie war lange Kunstturnerin, hatte mit 16 genug, sah mit 18 ein Video vom Snowboarden im Gelände. Im Grunde war Gasser längst zu alt, um sich noch in die Weltspitze zu hieven; viele Snowboarderinnen sind mit 18 Olympiasiegerinnen oder gelten zumindest als kommendes Wunderkind. Aber Gasser war akrobatisch bestens geschult, und sie zeigte fortan, wie lohnend es sein kann, sich nicht zu früh einem Sport zu verschreiben. "Ich bin zwar etwas älter, aber ich fühle mich noch nicht so", sagt sie: "Ich freue mich wirklich über jeden Tag, an dem ich Snowboarden kann, auch, weil ich immer etwas Neues lerne."

Das half ihr auch, die ersten, zähen Jahre durchzustehen, als sie nebenbei als Babysitterin jobbte, um die kleine Wohnung im schicken Freestyle-Park in den USA zu bezahlen. Oder als sie sich am Halswirbel verletzte oder die Hand brach. Oder als sie 2014 in Sotschi, als Favoritin im Slopestyle, zu früh in den Hindernisparcours purzelte, weil sie dachte, der Kampfrichter habe das Zeichen zum Losfahren gegeben - tatsächlich wollte er Gasser bloß Glück wünschen. Sie wurde dann Zehnte.

WINTERSPORTS OESV equipping SALZBURG AUSTRIA 12 OCT 18 ALPINE SKIING SKI NORDIC NORDIC COMBIN; Gasser

"Ich will nicht das Notwendigste, ich will das Beste“: Anna Gasser, 27

(Foto: Andreas Pranter/Imago/GEPA pictures)

"Ganz lieb gemeint", hat Clemens Millauer, ebenfalls Snowboarder und Gassers Freund, einmal der Agentur APA gesagt, "kommt sie mir vor wie ein junger Husky, der dauernd den Drang nach Bewegung hat. Aber deshalb ist sie auch so gut. Weil sie dauernd die Plätze sucht, wo man am besten Snowboarden kann." Und wenn man dafür spontan in den Flieger nach Colorado steigt: "Es gibt nicht viele, die diese Motivation haben."

Gasser plant auch zwei Filmprojekte

Nur wer offen ist für das Unbekannte, kann auch dem Gewöhnlichen entfliehen, und so hat es Gasser in ihrer skisportverrückten Heimat zu einiger Prominenz gebracht. Sie wurde zur Sportlerin des Jahres gewählt, das Brause-Imperium von Red Bull vermarktet sie. Und die höheren Erwartungen? Die seien nach der Goldmedaille in Pyeongchang "total abgefallen", sagt Gasser, "ich kann die Contests und das Drumherum viel mehr genießen." Sie plant noch viele Wettkämpfe, am Wochenende auf der Dew Tour in den USA zum Beispiel; sie wird auch ihren dreifachen Rückwärtssalto im Weltcup probieren, "wenn alles passt", sagt sie. Aber Gasser will demnächst auch an zwei Filmprojekten mitwirken, der Strömung all jener Freestyler, die für das künstlichere Contest-Fahren nicht so viel übrig haben. "Ich weiß, dass es mir gut tut, ein bisschen Abwechslung zu haben", sagt sie, "Snowboarden ist so viel vielseitiger als nur Contest."

Und sonst? "Es geht immer weiter", sagt Gasser; die Konkurrenz werde ihren neuen Trick bald auch beherrschen, "das wird man bei den nächsten Winterspielen brauchen, um eine Medaille zu gewinnen", glaubt sie. Aber ihr gefalle das, dieser Wettstreit. "Wenn ich nur eine reine Wettkampfläuferin wäre, würde ich vermutlich nur das Notwendigste tun. Aber ich will nicht das Notwendigste. Ich will das Beste."

Das ist natürlich auch keine schlechte Idee, um das Wettkampffahren auf eine neue Stufe zu heben: nicht zu sehr an die Spielregeln des Wettkampfs denken.

Zur SZ-Startseite

Stürze bei Olympia
:Gerissene Bänder, gebrochene Knochen

In den Freestyle-Disziplinen verletzten sich bei Olympia überproportional viele Fahrer - eine Debatte um den Kursbau ist entbrannt. Wollen die Veranstalter zu viel Spektakel?

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: