Snowboard:Auch die Zeit friert ein

Der Amerikaner Shaun White bezwingt bei seinem dritten Olympiasieg die Generation, die den 31-Jährigen schon abgelöst zu haben schien.

Von Johannes Knuth

Zu Beginn der Nullerjahre gab es dieses unerhört süchtig machende Computerspiel, es trug den Namen des Skateboard-Großmeisters Tony Hawk. Die Datenträger waren auf den Pausenhöfen heiß begehrt. Wer eine Kopie ergatterte, konnte mit seinem virtuellen Boarder nach und nach verrücktere Tricks vollführen, und jedes Mal, wenn man einen dieser monströsen Drehungen versuchte, wurde kurz ein dramatischer Akkord eingespielt - alles verstummte, während der Fahrer durch die Luft wirbelte. Es dauerte oft Wochen, bis man einen dieser Tricks in eine halsbrecherische Kombination einbauen konnte. Manche versanken so tief im virtuellen Skateboarden, dass die Eltern die Sicherung im Kinderzimmer abdrehten.

Aber wer konnte später auf dem Pausenhof schon behaupten, einen Fake Ollie mit 900er und einem Inward Heelflip kombiniert zu haben?

Wer in diesen Tagen von Pyeongchang die olympischen Snowboard-Wettbewerbe verfolgt, hat manchmal das Gefühl, dass die Realität das Virtuelle überholt. Jedes Mal, wenn ein Fahrer abhebt, verstummt das Publikum kurz - dann fällt es von einem Aaaah ins Ooooh, weil der nächste Trick noch mehr Drehungen und Schrauben bietet. Es sind vor allem die Jungen, die diese Entwicklung vorangetrieben haben, die Olympiasieger Redmond Gerard und Chloe Kim aus den USA, beide 17. Beide sind nicht nur unerhört lässig, sie sind auch ehrgeizig, sie trainieren seit Jahren bis zu zwei Mal am Tag im Schnee, auf dem Trampolin, im Kraftraum. Und auch im olympischen Halfpipe-Finale am Mittwoch sah es danach zunächst so aus, als würde einer der jungen Zauberkünstler die Goldmedaille gewinnen, der Japaner Ayumu Hirano, 19.

Bis ein gewisser Shaun White aus San Diego, Kalifornien, doch noch seinen dritten Olympiasieg auf seine Seite zerrte, im biblischen Alter von 31 Jahren.

Shaun White war in den Erzählungen seines Sports in den vergangenen Jahren nicht mehr allzu oft vorgekommen. Der Snowboard-Großmeister und Unternehmer hatte sich nach seinem vierten Platz in Sotschi ein paar anderen Dingen gewidmet. Seiner Rockband etwa, die mal erfolgreich war, heute vor allem bekannt ist, weil Whites ehemalige Schlagzeugerin ihm sexuelle Belästigung vorwarf. White stritt das ab, beide Parteien einigten sich vor einem Jahr außergerichtlich. Ein Portal veröffentlichte zuletzt wieder unappetitliche Details über anzügliche Bilder, die White angeblich seinem Opfer geschickt hatte. "Ich bin hier, um über Olympia zu reden, nicht über Klatsch", sagte White, als er am Mittwoch darauf angesprochen wurde. Er redete dann lieber von der Zeit nach dem Vorfall. Zum Beispiel, wie er sich wieder an die Spitze seines Sports gehoben hatte, den er einst revolutioniert hatte.

Sportler versehen Comebacks gerne mit einem höheren Sinn. Lance Armstrong radelte gegen den Krebs. Muhammad Ali boxte auch für die Schwarzen. Claudia Pechstein läuft in Pyeongchang mit 45 Jahren, weil sie auch getragen ist von der Wut gegen den Eisschnelllauf-Weltverband, der ihr angeblich zu Unrecht eine Dopingsperre aufdrückte. White hatte in Südkorea nichts Vergleichbares anzubieten. Einen Trick zu landen, zu gewinnen, "das fühlt sich einfach richtig an", sagte er. Dann erzählte er eine Geschichte, die von seinem Konkurrenten Ayumu handelte, als der noch 13 war. Ob Ayumu der nächste Shaun White sei, fragten die Reporter den Japaner damals ständig. "Das war so viel Druck für ihn", erinnerte sich White, "und ich habe das gehört und dachte: Was redet ihr eigentlich? Ich bin doch noch da!"

"Ganz ehrlich, das war einer der herausforderndsten Läufe, die ich je gemacht habe", sagt White

White an der Spitze, das war mal das erste Gebot des Halfpipe-Snowboardens gewesen. Sein Auftritt in Pyeongchang wirkte da auch wie der altbekannte Versuch eines Sportlers, die Zeit einzufrieren.

Das Finale war dem Anlass angemessen. White legte einen famosen Lauf vor, so, wie er das Niveau früher stets definiert hatte. 94,25 Punkte, Platz eins. Ayumu konterte mit der Kombination, die er Ende Januar erstmals als Weltneuheit präsentiert hatte: zwei Tricks mit je vier Drehungen hintereinander, 1440er im Fachjargon genannt. 95,25 Zähler, Bestwert. Der Japaner steigerte sich im dritten Lauf nicht mehr (nur der beste von drei Versuchen zählt). Aber er führte. Scotty James, den dritten Favoriten im Feld, stauchte es bei einer Landung zusammen, er blieb Dritter. Und White? Der stand den ersten 1440er, den zweiten, diese Kombination hatte er noch nie probiert. "Ganz ehrlich, das war einer der herausforderndsten Läufe, die ich je gemacht habe", sagte er über seine 97,75 Punkte; er dampfte jetzt vor Genugtuung. "Ich bin stolz auf alle Fahrer", fügte er an, "die mich die ganze Zeit gefordert haben."

Wer seinen Sport dominieren will, muss so gut sein, dass die anderen nicht mehr folgen können. Wobei in Whites Dunstkreis einige bemerkenswerte Leistungen entstanden, der fünfte Platz des Schweizers Patrick Burgener etwa (der einzige deutsche Starter Johannes Höpfl schied im Halbfinale aus). Dabei hatte der Titelverteidiger sogar gefehlt, der Schweizer Iouri Podladtchikov war Ende Januar bei den X-Games gestürzt, Schädel-Hirn-Trauma, Olympia vorbei. Am Mittwoch prallte der Japaner Yuto Totsuka, 16, auf die Kante der Halfpipe und stürzte schwer. Er kam offenbar ohne schlimme Verletzungen davon.

Zum dritten Mal Gold

Der 31-jährige Snowboarder Shaun White, der 1987 in San Diego/Kalifornien geboren wurde, hat zum vierten Mal an Olmpischen Spielen teilgenommen - jeweils in der Halfpipe.

2006 Turin Goldmedaille

2010 Vancouver Goldmedaille

2014 Sotschi 4. Platz

2018 Pyeongchang Goldmedaille

Es gab zuletzt auch Stimmen, die vor den Kehrseiten der immer verrückteren Tricks warnten. Kevin Pearce zum Beispiel verpasste vor acht Jahren die Winterspiele, weil er eine Kopfverletzung unterdrückte und später ins Koma fiel. Der Amerikaner fordert heute verpflichtende Tests, die kognitive Fähigkeiten eines Snowboarders erfassen sollen. Wer stürzt, dessen Werte könnten mit denen aus der Datenbank abgeglichen werden. White, der im vergangenen Oktober in den Schnee knallte und mit 62 Stichen genäht werden musste, sagte in Pyeongchang: "Wenn sich die Dinge entwickeln, gibt es immer ein paar negative Konsequenzen." Wobei er auch zugab: "Ich weiß gar nicht, wohin die Entwicklung jetzt gehen soll."

Nun, irgendwie geht es ja immer weiter. White flirtete am Mittwoch schon wieder mit dem Gedanken, bei den Sommerspielen in seiner zweiten Liebe anzutreten: dem Skateboarden, das 2020 in Tokio erstmals olympisch ist. Dafür müsste er freilich zwei kostbare Trainingsjahre opfern, die ihm vor den Winterspielen 2022 in Peking fehlen würden. "Das wird eine harte Entscheidung", sagte White.

So oder so: Er wird weiterfahren

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