Snowboard:American Dream

"Das ist ziemlich verrückt": Die 17-jährige Chloe Kim aus Kalifornien holt im Heimatland ihrer Eltern die Goldmedaille auf der Halfpipe.

Von Johannes Knuth

Die Snowboarderin Chloe Kim machte sich so ihre Sorgen: "Hätte ich mal mein Sandwich beim Frühstück zu Ende gegessen. Aber mein stures Ich wollte ja nicht." Kim dichtete diese Zeilen am Dienstag übrigens auf ihren Social-Media-Accounts, zwischen ihrem zweiten und dritten Versuch im olympischen Halfpipe-Finale, aber gut. Sie schaute sich vor ihrem letzten Lauf noch ein bisschen die Konkurrenz an, versuchte, nicht mehr an ihren Hunger zu denken. Dann fuhr sie los und wurde Olympiasiegerin.

Die meisten Konkurrentinnen hätten vermutlich nicht mal wohlgenährt das geschafft, was Chloe Kim, 17, aus Torrance in Kalifornien am Dienstag in Pyeongchang aufführte. Ihr Lauf war kreativ, kraftvoll, technisch eine Klasse für sich. In ihrem letzten Lauf baute sie sogar jene Kombination ein, die vor zwei Jahren ihren Ruhm gemehrt hatte: zwei Sprünge mit je drei vollen Drehungen, 1080 im Fachlexikon genannt. Schon in einfacher Ausführung ist das einer der härtesten Tricks bei den Frauen. Kim sprang ihn zwei Mal, hintereinander. Die Jury belohnte sie mit 98,25 von 100 möglichen Punkten, allein zehn mehr als die zweitplatzierte Chinesin Jiayu Liu. "Ich kann es noch nicht begreifen, ich brauche ein bisschen Zeit für mich", sagte Kim nach ihrem bislang größten Erfolg.

Wie viele Punkte sie wohl gesammelt hätte, hätte sie ihr Frühstücksbrot aufgegessen?

Wunderkind-Vergleiche sind immer so eine Sache, vor allem in der Hochleistungsära mit ihren Begleiterscheinungen. Aber bei Kim handelt es sich nach allem, was bekannt ist, um eine Erscheinung, die einem Sport nicht allzu häufig zufällt. Sie beherrschte bereits die Gegenwart ihrer Disziplin, als sie noch als Zukunft des Sports gehandelt wurde, gewann bislang vier Goldmedaillen bei den X-Games, der amerikanischen Trendsportmesse, dazu so ziemlich jede wichtige Leistungsschau der Szene. Wenn Shaun White, der Actionsport-Großmeister aus den USA, das Halfpipe-Snowboarden prägte, dann ist Chloe Kim wohl der Shaun White ihrer Generation, so sieht das zumindest die New York Times.

"So langsam verstehe ich, dass ich beide Länder repräsentieren kann."

So ganz stimmen solche Vergleiche natürlich nie. White, ein Liebling des kommerziellen Amerikas, galt immer ein bisschen als Außenseiter in der freigeistigen Snowboard-Szene. Kim ist tiefer in diesem Umfeld verwurzelt. Aber ein paar interessante Parallelen gibt es schon: White und Kim sind in Kalifornien aufgewachsen, beide wurden von ihren Eltern früh in den Schnee geschickt; Kim war damals vier (der Vater packte ihr zerschnittene Yogamatten in die Skihose, weil er nicht wusste, dass es spezielle Protektoren gibt). Beide rissen den Sport an sich, als sie in der Pubertät waren, weil sie Geschwindigkeit, Akrobatik und Wille kombinieren wie wenig andere. Kim hatte schon 2014 alle Resultate zusammengetragen, um bei Olympia in Sotschi starten zu dürfen, sie war mit 13 Jahren aber zu jung. Macht nichts, sagte sie damals, sie wusste schon: In Südkorea würde sie bereit sein.

Snowboard: Ausnahmeerscheinung: Chloe Kim beherrschte bereits die Gegenwart ihrer Disziplin, als sie noch als Zukunft des Sports gehandelt wurde. Diesmal ist sie endlich alt genug für Olympia.

Ausnahmeerscheinung: Chloe Kim beherrschte bereits die Gegenwart ihrer Disziplin, als sie noch als Zukunft des Sports gehandelt wurde. Diesmal ist sie endlich alt genug für Olympia.

(Foto: Martin Bureau/AFP)

Es kam dann, wie es alle erwartet hatten. Mit 14 gewann sie erstmals bei den X-Games, knüpfte Erfolg an Erfolg, die Agenten überschütteten sie mit Angeboten für Verträge. Wobei: Olympia war immer der Hauptpreis, Olympia zählt in den USA mehr als jeder Contest oder Weltcup. "Ich bin einfach nur aufgeregt, es ist so cool, hier zu sein", sagte Kim vor ein paar Tagen bei einer Pressekonferenz in Pyeongchang. Ihr Auftritt in Korea ist auch eine Art Familienzusammenkunft. "Meine ersten Spiele in dem Land zu bestreiten, aus dem meine Eltern ausgewandert sind", sagte Kim, "das ist ziemlich verrückt."

Kims Vater war 26, als er 1982 die billigste Maschine von Seoul nach Los Angeles nahm, mit 800 Dollar im Gepäck. Was folgte, ist fast schon zu kitschig. Er schlug sich als Tellerwäscher und Aushilfe in einem Spirituosenladen durch, kratzte Geld für die Universität zusammen, ging als Ingenieur ab. 1998 lernte er seine zweite Frau kennen, ebenfalls eine Koreanerin, sie zogen nach Kalifornien, zwei Jahre später kam Chloe zur Welt. Heute besuchen sie ein paar Mal im Jahr die Verwandten in Korea. Kim spricht fließend koreanisch, aber in vielerlei Hinsicht fühle sie sich bis heute als Touristin, sagte sie vor Olympia dem US-Portal ESPN. In den vergangenen Monaten fragten sie Reporter aus beiden Ländern vermehrt Fragen, die sich eine 17-Jährige eher selten stellt: Was bedeutet koreanische Kultur für dich? Deine Familie? Ein Wettkampf in dem Land deiner Eltern?

Einmal sagte Kim: "Am Anfang wusste ich nicht, wie ich hier aufgenommen werde. Aber so langsam verstehe ich, dass ich beide Länder repräsentieren kann."

Ihre Botschaft scheint angekommen zu sein. Als Kim am Dienstag im Freestyle-Park in Bokwang an den Start rutschte, schienen die Koreaner die kommende Olympiasiegerin akustisch zu umarmen, ein Gefühl, das Kims Vater und Verwandte im Zielraum sichtlich mit Stolz erfüllte. Als der Sieg feststand, sagte er: "Das hat alle Opfer gerechtfertigt." Dann schrie er: "American Dream", freudetrunken.

Medal Ceremony - Winter Olympics Day 4

„Ich bin gerne im Mittelpunkt“: Chloe Kim bei der Siegerehrung.

(Foto: Sean M. Haffey/Getty Images)

Wer bei Olympia gewinnt, ist oft ein Ankommender nach einer langen Reise. Aber für Kim nehmen die Dinge erst jetzt richtig ihren Lauf. Ihr ohnehin großes Werbepotenzial wird sich vervielfachen, nicht nur in Amerika, auch auf dem Markt im Heimatland ihrer Eltern. Wenn sie in Seoul vor der Presse auftritt, kommen bis zu 50 Reporter - das war vor ihrem Olympiasieg. Bis Mitte 20 wolle sie auf jeden Fall fahren, hat sie zuletzt gesagt, bald auch im Slopestyle, einem Lauf durch einen mit Rampen und Hindernissen gespickten Parcours. "Ich bin gerne im Mittelpunkt", beteuert sie, und den immer größeren Erwartungsdruck pariert sie noch mit jugendlicher Leichtigkeit: "Ich sehe es so, dass all die Leute so viel von mir erwarten, weil sie an mich und mein Können glauben."

Kim wird freilich noch spüren, was auch Shaun White lernen musste: Der härteste Trick für die Hochbegabten des Snowboardens ist keine dreifache Drehung, sondern der Drang, sich immer wieder selbst überbieten zu müssen.

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