Neuer Snooker-WeltmeisterDie Tränen des Kyren Wilson

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Der neue Snooker-Weltmeister: Kyren Wilson.
Der neue Snooker-Weltmeister: Kyren Wilson. (Foto: Mike Egerton/dpa)

Als die Branchengrößen patzen, sind die Hinterbänkler zu Stelle - und Wilson gewinnt unerwartet seinen ersten Snooker-WM-Titel. Auch für den deutschen Kommentator Rolf Kalb endet das Turnier emotional.

Von Carsten Scheele

Manche Gelegenheiten kommen so schnell nicht wieder, dieser Tatsache war sich Kyren Wilson eindeutig bewusst. Der Brite gehört durchaus zu den begabteren Snookerspielern der Welt, als große Favoriten aber galten bei der Weltmeisterschaft im englischen Sheffield andere. Doch dann fand sich Wilson, von Weltranglistenplatz zwölf aus ins Turnier gestartet, plötzlich im Halbfinale wieder - mit drei Qualifikanten.

All die Prominenten der Szene, ob Ronnie O'Sullivan, Judd Trump, Mark Selby oder Ding Junhui, hatten sich teilweise unanständig früh aus dem Crucible Theatre verabschiedet. Das Ergebnis war ein höchst überraschend besetztes Halbfinale mit Stuart Bingham (Weltranglistenplatz 29), David Gilbert (Platz 31), Jak Jones (Platz 44) und eben Wilson. Eine Viererkonstellation, die wohl kaum ein englischer Buchmacher vor der WM ernsthaft in sein Wettangebot aufgenommen hätte, so unwahrscheinlich erschien sie.

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Doch die Hinterbänkler waren zur Stelle, als die Branchengrößen patzten. Insbesondere Wilson, 32, der erst im Halbfinale über Gilbert hinwegfegte (17:11), dann im Finale gegen Jones einen wahren Traumstart erwischte, 7:1 führte und diesen Vorsprung nicht mehr hergab. 18:14 hieß es am Ende für den Mann aus Kettering in Northamptonshire, noch am Tisch ballte er die Faust, reckte sie hoch in Richtung der Loge, in der seine beiden kleinen Söhne saßen. Dann schlug er sich die Hände vors Gesicht. "Es bedeutet mir so viel", sagte Wilson mit Tränen in den Augen.

In Abwesenheit von O'Sullivan, Trump oder Selby entwickelt sich ein wildes Snooker-Finale

Die WM ist derzeit kein gutes Pflaster für die Favoriten, schon 2023 hatte ein Außenseiter, der Belgier Luca Brecel, gewonnen. Nun siegte in Kyren Wilson der nächste, den zu Turnierbeginn kaum jemand auf dem Zettel hatte - anders als etwa O'Sullivan, der sich mit seinem achten Titel zum alleinigen Rekordweltmeister der Snooker-Neuzeit hätte küren können. Doch O'Sullivan hatte seine exzellente Form aus der Frühphase der Saison irgendwo auf dem Weg nach Sheffield liegen lassen. Er haderte mit seinem Spiel und seinem Queue, legte sich unter anderem mit der Schiedsrichterin an und schied ziemlich überraschend gegen Bingham aus. Später sagte O'Sullivan, er habe die WM gar nicht spielen wollen, sei nur auf Druck seiner Sponsoren trotzdem angetreten.

Ohne amtlich beglaubigte Branchengröße entwickelte sich ein ziemlich wildes Finale: mit etlichen leicht verschossenen Bällen, ohne eine Vielzahl ganz hoher Breaks, aber mit einigen herausragend platzierten safeties, sicher abgelegten Kugeln. Wilsons Sprint zu Beginn des Finales erleichterte ihm das Leben sehr; was Jones anschließend auch unternahm, er kam nicht mehr entscheidend heran. Als Jones bei Punktegleichstand im 28. Frame die respotted black - eine zurück auf den Tisch gelegte schwarze Kugel, um eine Entscheidung zu erzwingen - aussichtsreich verschoss, schnappte sich Wilson kühl den Framegewinn. Und nach einem letzten Aufbäumen von Jones, der noch einmal um drei Frames verkürzte, das gesamte Match.

Für Wilson war es der erste ganz große Titel seiner Karriere, er feierte ihn unten am Tisch mit seinen Eltern, seinem Bruder, seiner Ehefrau und seinen Kindern - und dachte auch im Siegerinterview an sie. "Sie haben ihr Leben geopfert, um mich hierher zu bringen", sagte Wilson, mit noch mehr Tränen. In der Weltrangliste schießt der neue Weltmeister durch seinen Überraschungstriumph auf den dritten Platz nach vorn. Als Hinterbänkler wird ihn nun gewiss niemand mehr betrachten.

Und für noch einen wurde es ein emotionaler Abend: für den deutschen Snooker-Kommentator Rolf Kalb, der nach mehr als zwei Jahrzehnten für Eurosport sein letztes WM-Finale kommentierte. In Deutschland war Kalb das Gesicht der ganzen Sportart; kaum vorstellbar, dass demnächst ein anderer erklären soll, welcher Spieler auf dem Kurs zu einem century break (100 Punkte in Serie) ist oder wer nun snooker (erzwungene Punkte durch das Foul des Gegners) benötigt. Er werde dem Sport treu bleiben und sich die nächste Saison "vom Sofa aus" ansehen, versprach Kalb, ehe er zum letzten Mal seine Abschiedsfloskel aufsagte: "Glückauf, Ihr/Euer Rolf Kalb."

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