Stolz sind sie in Kitzbühel auf ihren Ganslernhang, der fälschlicherweise manchmal ein bisschen als Beiprodukt angesehen wird zur Streif nebenan. Wie ein kleiner, gemeiner Bruder der mächtigen, unbezwingbaren Abfahrtsstrecke wirkt der Slalomhang bisweilen. Linus Straßer hat einst den Begriff „Schweinsberg“ geprägt. Fernab der Mikrofone hört man mancherorts auch noch weitaus weniger jugendfreie Beleidigungen. Es ist ein minutenlanger Überlebenskampf über Wellen und Übergänge, der Athleten in den Grenzbereich führt – nur: Aktuell könnte man die besten Slalomfahrer der Welt auch über die Wellen aus dem Kinderland der Skischule Rote Teufel 300 Meter nebenan fahren lassen und es wäre vermutlich interessant anzuschauen.
Eng wie selten zuvor geht es zu in der Disziplin mit den verwirrend vielen Torstangen, wo zahlreiche interessante Charaktere um Siege fahren. Dem Ruf des Ganslernhangs tut das entsprechend gut: Das vielleicht spannendere, sicherlich aber hochklassigere Rennen fand in Kitzbühel am Sonntag beim kleinen Bruder der Streif statt, in der gar nicht mal mehr so heimlichen Königsdisziplin Slalom.

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Für diese Entwicklung im Skiweltcup gibt es zahlreiche Gründe. Man kann unter anderem erkennen, dass die Mehrheit der jungen Athleten im Nachwuchs mehr Fokus auf die technischen Disziplinen gelegt hat. Günstiger ist das für die Skiverbände, weil das Training leichter umsetzbar und sicherer ist für die Kinder. Und weil auch die Erwachsenen sich in den Speed-Disziplinen häufig – zu häufig – schwer verletzen, ist dort eine Art Vakuum entstanden: Eine große Zahl potenzieller Siegfahrer in Abfahrt und Super-G liegt in Krankenhausbetten, besucht Reha-Kliniken oder schaut vom Zielraum aus zu, anders ist das in den langsameren Technikdisziplinen.
Die Dichte im Slalom ist zuletzt immer größer geworden, man konnte das am Sonntag wieder sehen. Etwas mehr nur als eine halbe Sekunde trennte den Sieger Clément Noël von Filip Zubzic auf Platz zehn, so geht das die ganze Saison schon. Das führt bisweilen zu kuriosen Ergebnissen, wie im Falle der Norweger, die vergangene Woche in Wengen noch einen Dreifachsieg zelebrierten, während in Kitzbühel Henrik Kristoffersen, Atle Lie McGrath und der Halbzeitführende Timon Haugan nacheinander ausfielen. Manche, wie Noël, scheinen mit der Konkurrenz gut klarzukommen: Der Franzose gewann in Kitzbühel nicht nur seine zweite goldene Gams nach 2019, sondern auch seinen vierten Weltcup in dieser Saison.
„Wenn ich immer nur zufrieden wäre, wenn ich am Podium stehe, dann wäre ich selten zufrieden“, sagt Straßer
Andere haben ihre Schwierigkeiten mit den andauernden Hundertstel-Entscheidungen. Der norwegische Brasilianer Lucas Pinheiro Braathen etwa fuhr in Kitzbühel zwar erneut aufs Podest, der Ärger war ihm danach allerdings anzusehen: Diesmal hatten 19 Hundertstelsekunden gefehlt zum ersten Weltcupsieg seit dem Comeback, den Braathen nur zu gerne an der Copacabana des Skisports geholt hätte. Der brasilianischen Öffentlichkeit wird er nun trotzdem erklären können, was eine Gams ist, die in Kitzbühel in Pokalform auch in Silber (an Alex Vinatzer aus Italien) und Bronze verliehen wird. Und die auch Straßer gerne in den Händen gehalten hätte, der die Gams als residierender Kirchberger bestens kennt und daher schon am Donnerstag referierte, sie sei ein Herdentier.
Eine goldene Gams steht bereits seit dem vergangenen Jahr bei Straßer zu Hause, vorerst aber weiter allein. Zu einer weiteren fehlten diesmal neun Hundertstelsekunden auf Braathen, damit ist verbrieft, dass auch Straßer eher zu denjenigen Fahrern zählt, die im Krimi mehr die Nebenrolle einnehmen. „Wenn ich immer nur zufrieden wäre, wenn ich am Podium stehe, dann wäre ich selten zufrieden“, sagte Straßer, dem Platzierungen derzeit weniger bedeuten als die grundsätzlich positive Entwicklung auf Skiern. Die schienenartige Sicherheit aus der Vorsaison geht ihm zwar weiterhin ein wenig ab, die Zeitabstände zur Spitze allerdings sind gering und werden zunehmend kleiner. Der Januar hat sich einmal mehr als ein Straßer-Monat erwiesen, der sich „von Rennen zu Rennen“ gesteigert hat und sich auf Skiern deutlich wohler fühlt als noch im Vorjahr: „Das ist ein Prozess, dem man vertrauen muss, dann kommen auch wieder Podien und Siege.“
Der Prozess führt Straßer als Nächstes an einen seiner Lieblingshänge, die Planai in Schladming wurde noch nie von irgendwem beleidigt. Der Slalomtross genießt das Nachtrennen, das am Dienstag wartet, es ist Österreichs zweitgrößte Winterfeier nach Kitzbühel. Danach wartet nach dem intensiven Januar eine kleine, aber verdiente Pause auf die Techniker: Bei der Ski-Weltmeisterschaft in Saalbach-Hinterglemm im Februar findet der Slalombewerb der Männer erst am finalen Sonntag statt. Wie es sich für eine gar nicht mal so versteckte Königsdisziplin eben gehört.