Süddeutsche Zeitung

Skispringen:Witze fürs Durchhalten

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Der kommende Skisprungwinter wird lang und anstrengend. Die deutschen Springer um Trainer Stefan Horngacher fühlen sich bereit, sie haben den Siegspringer Karl Geiger und dank Andreas Wellinger wohl auch gute Laune.

Von Volker Kreisl

Der letzte Eindruck war fürchterlich. Das Bild von der vergangenen Saison, das noch im Gedächtnis haftet, ist ein Mensch, der holpernd und sich überschlagend einen Steilhang hinunterstürzt. der Körper kommt irgendwann zum Stillstand, Helfer eilen herbei, sie packen den ohnmächtigen norwegischen Skispringer Daniel Andre Tande auf eine Trage, dann ist er weg, im Krankenhaus.

Das Bild wirkte wie ein Stempel auf diesem Sport: Vorsicht Risiko. Doch das Skispringen schwankt schnell wieder in das andere Extrem. Weil der Mensch Belastendes verdrängt, zum Tagwerk gezwungen ist, und wenn er ein verletzter Skispringer ist, ohnehin sofort an den nächsten berauschenden Flug denkt, so stand auch Tande in diesem Sommer bald wieder an einer Schanze . Nachdem seine Hirnblutungen, die Lungenverletzung und der Schlüsselbeinbruch verheilt waren, richtete er den Blick nach vorne. Und tatsächlich, schlimm war für ihn nur noch eines: weil die Ärzte ihm ein längeres Springverbot erteilt hatten, berichtete er im Sommer dem Online-Portal skispringen.com, "musste ich zuschauen, wie die anderen sprangen".

Nun ist er wieder zurück, zufrieden mit der Vorbereitung und wie alle anderen rätselnd, ob die Form und die innere Leichtigkeit auch im Wettkampf erhalten bleibt. In Nischni Tagil im fernen Uralgebirge Russlands startet am Samstag die nächste Saison, der Trainingsplan ist abgearbeitet, die Vorfreude steigt, die Form zeigt sich auch schon, der erste Weltcupsprung wird herbeigesehnt, aber niemand weiß, was nun passiert. Die ersten Sprünge können dem Selbstbewusstsein schon einen Knacks verpassen, oder den Springer beflügeln, je nachdem, ob er den wenige Zentimeter langen Absprungpunkt bei rund 90 km/h auf der noch eher selten gesprungenen Schanze von Nischni Tagil trifft, oder nicht.

Auch die deutschen Springer hüten sich daher wie immer, irgendwelche Ziele zu verkünden, die sie dann nur unter Druck setzen. Sie äußern sich vorsichtig, als säßen sie auf einem Schanzenbalken bei wechselndem Seitenwind. Alles muss sich ja noch einspielen, etwa die Umstellung vom grünen Mitteleuropa auf die Bedingungen im verschneiten Ural: "Gelandet sind wir bis zuletzt noch auf Matten, aber wir hoffen, dass wir den Telemark auch auf Schnee setzen können", sagte vor dem Flug nach Russland Karl Geiger.

Was allerdings feststeht, das ist der Kalender dieses Skisprung-Winters, und der ist wie immer im olympischen Jahr voller Termine. Zwei Gold-Höhepunkte enthält er, die Olympischen Spiele in Peking im Februar und die Skiflug-Weltmeisterschaft auf dem Rekord-Bakken von Vikersund in Norwegen. Die dritte Großveranstaltung gibt zwar keine Medaillen aus, stattdessen kriegt bei der Vierschanzentournee der Sieger eine etwas altmodische Adler-Skulptur, die aber bei einer bestimmten Mannschaft besonders begehrt ist, nämlich der deutschen. Seit 2002 Sven Hannawald der erste Grand Slam, also der Sieg auf allen vier Schanzen gelang, brachten die DSV-Teams zwar Weltmeister hervor, Weltcup-Gesamt- und Olympiasieger, aber keinen Tournee-Sieg. Dass der bislang letzte genau 20 Jahre her ist, ein Erfolg also so etwas wie ein Jubiläum darstellte, dürfte eher noch mehr Erwartungen und Druck erzeugen, weshalb es womöglich abermals nichts wird.

Obwohl - im Team von Bundestrainer Stefan Horngacher befände sich durchaus ein Kandidat. Karl Geiger, 28, der ruhige, niemals aufbrausende Oberstdorfer, der schon fast abgeschrieben war, sich dann spät entwickelte und nun eine der erstaunlichsten Karrieren erlebt, er könnte die Nerven für diesen Jahreswechselhöhepunkt haben. Dass dabei Millionen, neben dem mitunter schon nadelnden Weihnachtsbaum sitzend, hauptsächlich im Fernsehen Skispringen schauen, dieser Gedanke dürfte den sachlichen Geiger in seiner Konzentration nicht stören. Geiger lässt solche Gedanken nicht zu.

Er war zuletzt auch in der Vorbereitung der konstanteste deutsche Springer, Geiger bestätigte mit einem dritten Platz beim vorletzten Sommer Grand Prix seine aufsteigende Form. Neben dem Spitzenmann Geiger bildet das Team die übliche Skispringer-Mischung. Mit Markus Eisenbichler ist ein Gefühlsflieger dabei, der Großes vollbringen kann, der aber zuweilen impulsiv und ungeduldig ist, somit manchmal länger braucht, um seine Form zu entfalten. Zuletzt war er auch noch in Klingenthal gestürzt, was auch erst mal verarbeitet werden muss. Im Team dabei sind auch noch die teils von Verletzungen erholten und verlässlichen Teamspringer Stephan Leyhe, Constantin Schmid und Pius Paschke - und zudem noch eine Art Wundertüte.

Andreas Wellinger kann eher nichts dafür, auch er hätte wohl gerne eine konstante Linie in seiner Karriere, wie Geiger oder der Österreicher Stefan Kraft. Aber so sieht es weiterhin nicht aus. Der Ruhpoldinger Wellinger schwingt zwischen Hochs und Tiefs und nun arbeitet er sich mal wieder aus einem heraus. 2018 wurde er Olympiasieger, im Sommertraining 2019 zog er sich einen Kreuzbandriss zu und brach sich später im Urlaub auch noch das Schlüsselbein. Seine Form verlor er in der folgenden Saison komplett, im Winter 20/21 sammelte er keinen einzigen Weltcuppunkt. Jetzt gerät er wenigstens wieder ins Gleichgewicht, es heißt, er reiße wie in besseren Zeiten wieder Witze.

Nun steht der nächste Winter bevor. Der Norweger Daniel Andre Tande wähnt sich in aufsteigender Form. Horngachers Springer suchen ebenfalls ihre Wettkampfverfassung, ihre Position im Team und ihre Lockerheit. Auch Andreas Wellinger hat sich fürs Weltcup-Team qualifiziert. Gemäß seiner gleichmäßig auf- und vorüberziehenden Hochs und Tiefs müsste es in diesem Winter eigentlich wieder aufwärtsgehen, mit dem größten Talent der Deutschen seit langer Zeit. Witze sind, besonders bei einem Skispringer, ein gutes Zeichen.

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