Skispringen:Wenn unbekannte Flugobjekte über den Hang gleiten

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Beständigster deutscher Springer der vergangenen Saison: Der Oberstdorfer Karl Geiger, hier vor einem Jahr beim Weltcupstart in Wisła.

(Foto: Minkoff / imago)

Erstmals wissen die Skispringer zum Saisonstart nicht, wie gut die Konkurrenz ist. Die deutschen Athleten zumindest haben Fortschritte gemacht - so auch der lange verletzte Severin Freund.

Von Volker Kreisl

Schaut man auf der Reise nach Italien hinter Innsbruck links aus dem Fenster, so erhebt sich vor einem der Bergisel. Und falls das eigene Wagendach nicht im Weg ist, zeigt sich der erhabene Turm der Skisprungschanze. Der Autoreisende assoziiert tollkühne Flüge und freut sich vielleicht beim Gedanken an Skispringer.

Umgekehrt gilt das nicht.

Skispringer sind Wintersportler, und wo sie antreten, weit oben über dem Land, hört man höchstens das Pfeifen des kalten Windes, wenn nicht gerade eine riesige Zuschauerkulisse herauf schreit und trötet. Doch schon jetzt ist klar, wie deprimierend banal sich das für die Skispringer anhören wird beim berühmten Bergiselspringen der Vierschanzentournee am 3. Januar 2021. Daniel Huber, Weltcup-Springer aus Österreich, weiß aus dem Sommertraining: "Wenn du da oben hockst, hörst du hauptsächlich die Autobahn."

Wegen der Pandemie wird es keine Zuschauer geben, die den Motorenlärm sonst übertönen. Es fehlt aber noch mehr, und zwar überall. Gewissermaßen still war es den ganzen Sommer über, der übliche Austausch zwischen den Teams fand nicht statt, auch der Sommer-Grand Prix fiel aus. Kaum einer traf einen Konkurrenten im Training. Erstmals hat zum Weltcupauftakt (Freitag in Wisła/Polen) niemand in diesem sich ständig entwickelnden Sport eine Ahnung von der Form der anderen.

Weil also jede Nation in der eigenen Blase trainieren musste, war die Reaktion logisch: "Bei mir bleiben" hieß zum Beispiel die Devise von Markus Eisenbichler, dem Siegsdorfer Weltmeister von 2019 - und von den meisten anderen. Dazu zählte auch, dass das Team von Bundestrainer Stefan Horngacher seit Saisonende bis auf wenige Tage durchtrainiert hat. Fast ein Dreivierteljahr übte es vor null Zaungästen und reduziertem Schanzenpersonal in aller Stille die Grundlagen, ohne von Blicken auf die internationale Konkurrenz abgelenkt oder verunsichert zu werden.

So erzielte jeder im deutschen Team persönliche Fortschritte. Eisenbichler gelang es endlich, eine starke Sommerform auch im Spätherbst noch zu halten. Als aktueller deutscher Meister geht er in die Weltcup-Springen. Severin Freund, 32 und Weltmeister 2015, hat nach zwei Kreuzbandrissen im Jahr 2017 weitere Stufen in Richtung Normalform genommen. Regelmäßig prüft er seine Motivation und erkennt: "Das Feuer ist noch da." Ähnlich Andreas Wellinger, Olympiasieger 2018 und auch Kreuzbandriss-Rückkehrer. Er befindet sich im Wiederaufbau, hat noch viel zu tun, ist aber in manchen Momenten schon ziemlich nah an seinem Können, weshalb er nun auch wieder im Weltcup springt. Und Karl Geiger, der WM-Zweite von 2019 und Gesamtweltcup-Zweite 2020, wirkt wie immer ausgeglichen, als wäre das ganze Leben eine Anlaufspur, die ihn eh zum Ziel führt. Er sagt: "Ich schau', dass ich mein Set-up weiter verbessere und mich nicht verzettel."

Der Weltverband hat auch in diesem Sommer neue Regeln für die Ausrüstung erlassen

Bis zu diesem Freitag, wenn mit der Qualifikation in Wisła die ersten ernsthaften Sprünge und Flüge der Saison absolviert werden, war das Verzetteln wohl keine Gefahr, wer sollte einen schon aus dem Konzept bringen? Geiger erzählt, er habe seine Hauptkonkurrenten Stefan Kraft und Ryoyu Kobayashi das letzte Mal im März in Trondheim gesehen, "am Flughafen, als alles geflüchtet ist".

Umso spannender wird es nun, wenn sich alle wieder begegnen, sich mit dem entsprechenden Abstand beäugen und sich herausstellt, wer die beste Technik beherrscht. Immer noch geht es darum, Kobayashis unmittelbares Umschalten von Sprung auf Flug hinzukriegen, also trotz Höhe möglichst wenig Geschwindigkeit zu verlieren. Zudem hat der Ski-Weltverband Fis auch in diesem Sommer neue Regeln für die Ausrüstung erlassen, was immer Spannung bringt. Betroffen sind die beliebten Schaumstoffkeile, die sich die Springer in immer dickerer Form in den Sprungschuh stopften, damit die Fußbewegung möglichst direkt auf Bindung und Ski wirkte, was fürs fixe Umschalten von Sprung auf Flug und fürs stabile Segeln Wunder wirkte. Nur haben die Keile bei der Landung zu Stürzen und Knieverletzungen geführt, und deshalb ist es mit Keil-Exzessen wieder vorbei.

Jetzt gibt es den schmaleren Einheitskeil mit festen Grenzmaßen, der per Schablone peinlich genau gemessen wird wie der Sprunganzug; bei Übertretung wird disqualifiziert. Fast alle Springer erklären, die neue Regel wirke sich gar nicht so sehr aus, alles halb so schlimm - die Frage ist allerdings, warum es dann die Stopf-Unterstützung überhaupt brauchte. Und war nicht wie alles andere auch dieses Detail unersetzlich im sensiblen Springer-Set-up? Vorerst ist das Thema jedenfalls ein weiterer Grund, den Skisprungstart 2020 besonders spannend zu finden, ein Start vor einer Saison, die es in sich hat.

Drei Wochen nach Beginn steigt der erste Winter-Höhepunkt, die Skiflug-WM in Planica (10./11.12.). Zwei Wochen später schließt sich der eigentliche Skisprung-Höhepunkt an, die Vierschanzentournee um den Jahreswechsel. Immerhin ganze sieben Wochen später folgt dann der eigentlich eigentliche Höhepunkt, jedenfalls fürs deutsche Team, nämlich die Weltmeisterschaft in Oberstdorf (23.2. - 7.3.), die wohl wie die ganze Saison vor leeren, stummen Rängen stattfindet. An die WM schließt sich wiederum nach einwöchiger Pause der vierte und letzte, etwas exotischere Höhepunkt an: Die Raw-Air-Tour durchs stille verschneite Norwegen. Da stört ganz sicher keine Autobahn.

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