Vierschanzentournee:Der Reinfall seiner bisherigen Karriere

Four Hills Tournament

Four Hills Tournament Ski Jumping - Four Hills Tournament - Innsbruck, Austria - January 3, 2021 Germany's Karl Geiger during the final round REUTERS/Lisi Niesner

(Foto: REUTERS)

Karl Geiger braucht viele Stunden, um zu verstehen, warum er die Vierschanzentournee schon so gut wie verloren hat. In Bischofshofen will er die Konkurrenz nicht mehr beachten.

Von Volker Kreisl, Innsbruck

Erstaunlich, was man an einer Skisprungschanze alles hören kann, wenn die Zuschauer fehlen. Wenn Anfeuerung und Jubel ausfallen und auch das Unterhaltungsprogramm aus den Lautsprechern schweigt, dann spricht die Schanze selbst. Man vernimmt das Klimpern der Fahnenmasten, den Wind, der um die Anlage streicht, die Arbeiter, die sich Kommandos zurufen, die Ski der Springer, die nach dem Flug auf den Schnee klatschen.

Und statt der tosenden Kulisse hört man nun erstmals, wie die Springer reagieren. Die Sieger schreien vor Glück, die Verlierer fluchen - und Karl Geiger brüllte fast schon flehentlich diese Frage zurück auf die Schanze und in den Himmel darüber: "Warum nicht gleich?"

Geiger hatte gerade einen tadellosen zweiten Sprung hingelegt, aber das half ihm auch nichts, weil seine Vorstellung zuvor danebengegangen war, wonach er froh sein musste, als Letzter des ersten Durchgangs überhaupt noch dabei zu sein. Aus einer normalen Tournee war eine skurrile Veranstaltung geworden, deren Verlauf auf dem Kopf stand. Auf eine Verfolgungsjagd, einen Skisprungthriller hatten sich alle eingestellt, und dann war auf einmal die Spannung raus aus dieser 69. Auflage. Der Pole Kamil Stoch ist aller Erfahrung nach nicht mehr einzuholen: nicht in den verbleibenden zwei Sprüngen von Bischofshofen am 6. Januar, nicht in dieser grandiosen Form, nicht mit diesem Vorsprung. Wohl auch nicht für den ebenfalls abgestürzten norwegischen Weltcup-Ersten Halvor Egner Granerud - und am wenigsten für Geiger, der mit 24,7 Punkten Rückstand nur noch Gesamtvierter ist.

"Wir haben heut ins Klo gegriffen", grantelt Markus Eisenbichler

All das stand ja schnell außer Frage, und doch fehlte Geiger nun die Begründung, weshalb der sonst so ausgeglichene Sportler geladen war: "Zum Kotzen" sei's, er könne gerade "überall reintreten". Es gibt wohl kaum Schlimmeres für einen Springer, der immer am Tüfteln, Prüfen und Untersuchen ist, wenn er etwas nicht versteht. Erst recht, wenn es der Reinfall seiner bisherigen Karriere war. Geiger sagte am nächsten Tag, er sei halt so: Um wieder ins Gleichgewicht zu kommen, "muss ich verstehen können". Warum ist er also - wo doch alles so leicht aussah - nicht schon im ersten Durchgang so tadellos gesprungen?

Darauf eine befriedigende Antwort zu finden, war offenbar nicht leicht. Zunächst auch nicht für Markus Eisenbichler, der als Sechster noch ordentlich abschnitt, dann recht bald auf seinen Zimmergenossen und guten Freund Karl zu sprechen kam, aber eher allgemein interpretierte: "Wir haben heut' ins Klo gegriffen, von den Verhältnissen her." Aber so schlecht waren die Verhältnisse eigentlich nicht, dass Geiger gleich mehr als zehn Meter zu früh landete, jedenfalls nicht von außen gesehen. Der Wind war zwar tückisch, aber er war konstant, also tückisch für alle. Geiger blieb ratlos, stapfte davon, und Eisenbichler erklärte, er werde sich zunächst zurückhalten: "Wenn einer traurig ist, dann muss man ihn erst mal in Ruhe lassen." Beim Abendessen, "da werden wir ein bisschen ratschen".

Die Bergiselschanze ist freilich eine Anlage, die schon viele Skispringer verfluchten. Der Österreicher Stefan Kraft gab 2017 Nicht-Jugendfreies von sich, als der Föhn den zweiten Durchgang verblasen hatte. Die Deutschen hatten bereits in den vier Jahren davor wegen schlechter Präparierung, aber auch eigener Schuld alle Tournee-Aussichten verloren. Und nun erregte sich Geiger, jener Deutsche, der hier vor zwei Jahren WM-Zweiter hinter Weltmeister Eisenbichler wurde. Dabei wäre er doch der Beste, um diese Sache zu erklären, bedenkt man, wie eindrücklich er am Vortag noch die entscheidende Stelle am Bergisel beschrieben hat.

Wer nur einen Hauch zu passiv reagiert, wird auf der Innsbrucker Schanze bestraft

Man müsse kurz vor dem Absprung noch viel mehr aufpassen als sonst, sagte er. Denn anders als die weitläufigen Schanzen der ersten beiden Tourneespringen ist der Radius, also die Rundung vor der Kante, hier enger. Somit bleibt in diesem Moment, in dem die Kräfte besonders wirken, weniger Zeit, um sich auf den richtigen Absprungpunkt zu konzentrieren, der ja nur wenige Zentimeter lang ist. Ferner wirke dieser Bereich "fast wie ein Kicker", also eine Free-Ski-Schanze, die einen nach oben wirft, erklärte Geiger vorab, "wenn man da zu passiv ist, dann hat man keine Chance mehr". Oder anders: "Dann saugt's dich unten auf den Hang." Möglicherweise geht dies alles so schnell, ist der Ablauf aus der Hocke zum Sprung zum richtigen Winkel in der Luft derart automatisiert, dass man alles gar nicht richtig mitkriegt und als schwer Geschlagener unten ins Grübeln kommt.

Bundestrainer Stefan Horngacher war dann gleich mal zu Geiger in die Kabine gegangen, um ihm eine Erläuterung anzubieten. "Aber der Karl hat noch ziemlich gedampft", sagte der Coach, er habe auch etwas abwesend gewirkt. Am Abend dann folgte eine ruhigere Analyse. Horngacher glaubt, Geiger sei vielleicht durch die bislang fabelhafte Tournee "gedanklich etwas hinterher gewesen". Das könne passieren, er habe tatsächlich den Absprungpunkt verpasst, womit seine Flugkurve kürzer wurde.

Geiger hatte es dann begriffen, was einerseits wohl schmerzhaft war, weil er ja selber vor diesem Nadelöhr am Schanzentisch gewarnt hatte. Andererseits war es wohl auch erleichternd, weil die Warum-Frage nun beantwortet war. Am nächsten Morgen blickte er dann nach vorne, in Bischofshofen werde er nicht mehr auf die anderen schauen, er werde auch den Blick von der Tourneewertung lassen. Im Übrigen komme es eben manchmal so, dass man "durch den Schlamm waten muss, und das werde ich jetzt machen".

Bis zur WM bei ihm zu Hause in Oberstdorf in sechs Wochen dürfte er herausgewatet sein. Womöglich auch, weil Markus Eisenbichler beim Abendessen vielleicht noch jenen Satz wiederholt hat, den er schon in der Bergisel-Mixed-Zone zum Besten gegeben hatte. Klingt banal, hat aber Tiefe und eine beruhigende Wirkung, gerade für Skispringer: "Man weiß nie, was passiert im Leben."

Zur SZ-Startseite

Vierschanzentournee
:Untröstlich in Innsbruck

Das Springen in Innsbruck stellt die Tournee-Wertung auf den Kopf. Kamil Stoch ist der Gesamtsieg kaum noch zu nehmen - Karl Geiger und Halvor Egner Granerud hadern mit der Schanze.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: