Süddeutsche Zeitung

Karl Geiger bei der Vierschanzentournee:Mit Vollgas über den Ozean

Beim Auftaktsieg von Karl Geiger deuten die deutschen Skispringer an, was bei dieser Vierschanzentournee möglich sein könnte. Markus Eisenbichler gelingt eine famose Aufholjagd.

Von Volker Kreisl, Oberstdorf

Dann musste doch noch einer vom Balken runter und noch einmal in die Knie gehen, um sich das Gefühl für die Füße zu bewahren und auch, um die volle Fokussierung auf diese einmalige Chance nicht zu verlieren. Der Mann in der Hocke neben dem Balken war Karl Geiger, und er wartete auf die Freigabe zu dem Sprung, der ihn zum Sieg im ersten Springen der Tournee tragen sollte.

Endlich, die Ampel sprang auf Grün und Geiger ließ sich in die Spur gleiten. Was konnte noch passieren? Etwas Neuschnee hätte ihn bremsen können beim Anlauf, die Flugposition hätte er zu spät erwischen können, die Landung verwackeln können. Aber da war ja noch der Vorspringer, der die Spur wieder schön glatt fuhr und Geiger dachte in der Art, was er immer denkt, nämlich geradeaus. Im ZDF sagte er später: "Augen zu und durch und Vollgas geben."

Somit hatte der Oberstdorfer, der in der Sichtweite dieser Schanze zu Hause ist, genau das geschafft, was die Deutschen schon so lange vermissen. Geiger, der Führende nach dem ersten Durchgang, landete einen halben Meter weiter, als vom Computer als Mindestweite zum Sieg berechnet wurde, und seine Haltungsnoten blieben trotz des Landedrucks beachtlich.

Schon auf Rang fünf folgt Markus Eisenbichler

Der Deutsche Skiverband darf somit weiter hoffen, dass er in neun Tagen nach Sven Hannawald 2002 mal wieder einen Gesamtsieger bei der Vierschanzentournee stellen könnte. Viele Kandidaten hatte das DSV-Trainerteam unter Werner Schuster schon präsentiert, Severin Freund etwa war 2014 der letzte Deutsche, der in Oberstdorf gewann, auch Andreas Wellinger und Richard Freitag versuchten sich als Gesamtsieg-Anwärter, jedoch scheiterten alle am Innsbrucker Wetter oder an irgendeiner der vielen anderen Hürden auf dem Weg dorthin.

Geiger war wegen verschiedener Gründe (Geburt seiner Tochter, Quarantäne) selten zu sehen in diesem Winter, wenn er aber antrat, dann zeigte er eine konstante Leistung und machte auch schon mal Furore. Bei der Skiflug-Weltmeisterschaft in Planica flog er allen anderen davon, auch dem Weltcup-Gesamtführenden Halvor Egner Granerud. Nun, in Oberstdorf, wurde der Norweger Vierter, hinter seinem zwei Jahre jüngeren Teamkollegen Marius Lindvik. Auf Platz zwei kam auch ein Rückkehrer: Der zweimalige Tourneegewinner Kamil Stoch aus Polen hatte den Trubel um den verspäteten Einstieg nach dem Corona-Fall am besten verkraftet. Und schon auf Rang fünf folgte Markus Eisenbichler.

Er ist ja gut befreundet mit Sieger Geiger, und er war als Zweiter im aktuellen Weltcup-Ranking noch viel eher ein Tourneefavorit als dieser. Aber der Siegsdorfer Eisenbichler war sich auch ein bisschen selber im Weg gestanden mit seiner spontanen und emotionalen Art. In der später annullierten Qualifikation vom Montag war er im Mittelfeld gelandet, und als es am Dienstag mit dem polnischen Team von vorne losging, da verrutschte ihm ebenfalls der erste Sprung. Nur 118 Meter, das Podest bei dieser Tournee erschien schon unerreichbar weit weg. Wieder war Rückenwind, wieder hatte er zu viel gewollt, und war nicht dahin gekommen, wo er seine Stärken hat: ins Fliegen.

Eisenbichler landet erst bei 142 Metern

Aber das Drehbuch dieser Tournee sah keinen Absturz des Fliegers vor, sondern nur ein bisschen mehr Spannung. Viel zu schnell musste er nach der Pause hinauf zum Finaldurchgang, und dann, als er nichts mehr zu verlieren hatte, gelang ihm eine Vorführung wie ein Flug über den Ozean. Eisenbichler landete erst bei 142 Metern, rund 15 Meter weiter, als die aktuelle Konkurrenz. Und auch der Rest der Finalspringer hatte plötzlich eine weit entfernte grüne Führungslinie vor der Nase, die beim Anflug einfach nicht näher kommen wollte.

Eisenbichler riss die Arme hoch, als könne jetzt, mit leichter Verspätung, diese Tournee für ihn beginnen. Sein Kumpel, Karl Geiger, ist für ihn nur noch theoretisch erreichbar, aber ein Gesamt-Podestplatz erscheint angesichts Eisenbichlers Form möglich. Um seine Ziele bei der Tournee zu erreichen, braucht ein Springer Erfahrung, Aufwind oder Glück in anderer Form, und das Gefühl, dass es am Ende doch gut geht. Bei Geiger und Eisenbichler ist momentan alles vorhanden.

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