Skispringen:Über die grüne Linie

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"Dies ist ein Risikosport": Nick Fairall besucht ein Jahr nach seinem Sturz die Skispringer in Bischofshofen - und hält ihnen auch den Spiegel vor.

(Foto: imago)

Der im vorigen Jahr schwer gestürzte und als erster Springer überhaupt folgenschwer verletzte Nick Fairall besucht die Tournee. Obwohl er noch immer im Rollstuhl sitzt, träumt er weiter vom Fliegen.

Von Volker Kreisl, Bischofshofen

Er fühle sich gut, sagt Nick Fairall: "Besser hätte es nicht laufen können." Dann stockt ihm die Stimme, und er muss für einen Moment mit sich kämpfen, ehe er fortfährt. Er sei so dankbar, sagt er, für die Hilfe und die Anteilnahme: "Das alles spricht sehr für die Qualität der Skisprung-Gemeinschaft."

Es ist der Abend vor dem Finale der Vierschanzentournee, und da wird die Skisprunggemeinschaft kurz herausgerissen aus ihrer Routine aus Training, Qualifikation und Finale. Der Skispringer Fairall sitzt im Rollstuhl auf dem Podium, er strahlt Optimismus aus. Aber obwohl er das gar nicht bezweckt, so hält sein Bericht von dem Sturz vor einem Jahr hier in Bischofshofen dieser Sprunggemeinschaft just zum Saisonhöhepunkt auch einen Spiegel vor.

"Ich war selber schuld", das betont Fairall mehrmals. Schon im Probesprung für die Qualifikation sei er ja gestürzt, weil er sich sehr viel vorgenommen hatte. Sogar einen Ski hatte er sich dabei gebrochen, aber in der Qualifikation kurz darauf war er sicher, dass er endlich einen "großen Sprung" drauf hatte. Tatsächlich landete er dann zwar jenseits der grünen Linie, die dem Springer die Gesamtführung verheißt, aber mit zu starker Vorlage: "Ich ahnte, dass ich stürze, aber ich wehrte mich dagegen, ich wollte den Sprung unbedingt stehen!"

Der Druck im Radius war stärker, Fairall schlitterte noch ein Stück und blieb dann gekrümmt liegen. Er behielt das Bewusstsein, und so erinnert er sich noch an den Moment, als ihm das Ausmaß seiner Verletzung deutlich wurde. Skisprungstiefel fühlen sich immer sehr komfortabel an, sagt er, dennoch wollte er, dass ihm die Sanitäter die Schuhe endlich ausziehen. Die aber sagten, das sei längst geschehen.

Nick Fairall, 26, aus New Hampshire hat als erster Skispringer eine schwere Verletzung mit nachhaltigen Folgen davongetragen, jedenfalls als Erster seit den alten Zeiten, als der Sport noch zu wenig gesichert war. Damals waren Springer nach Stürzen auch zu Tode gekommen, wie etwa 1952 Paul Außerleitner in Bischofshofen, nach dem die Schanze benannt ist. Seitdem wurde unter anderem der stabilere V-Stil eingeführt, die Windvermessung, der Sturzhelm und auch der Rückenprotektor. Und vermutlich gehen die Verbesserungen weiter, und doch bleibt immer am Ende der Satz, den auch Fairall am Dienstag sagte: "Dies ist ein Risikosport."

Fairall sucht weiter die Nähe zu diesem Sport. Er hat sich einen Lendenwirbel gebrochen, aber er hat noch etwas Gefühl in den Beinen und kann diese leicht bewegen. "Wirbelverletzungen sind wie Schneeflocken", sagt er, "sie sehen auf den ersten Blick gleich aus, und doch ist jede einzigartig." Seine Fortschritte in den Reha-Zentren in New York und Lake Tahoe/Kalifornien vollziehen sich daher sehr langsam, einen Schub habe er allerdings verspürt, als ihn das amerikanische Skisprungteam um Trainer Bine Norcic nach Park City einlud. Der Gedanke, irgendwann mal wieder Skispringen zu können, lässt ihn nicht los.

Fairall kommt aus einer großen Sportnation, die aber ein kleines Skisprungland ist. Der US-Verband hat nicht viel Geld, der Ehrgeiz seiner Springer ist dennoch gewaltig. "Seit ich sechs Jahre alt war, bin ich Skispringer", sagt Fairall, und dann beschreibt er, wie es ist, mit 90 Stundenkilometern anzufahren, abzuheben und sich über 120 Meter weit vom Wind tragen zu lassen: "Amazing!"

Es geht also um den Traum vom Fliegen, oder vom Tempo, von der Tiefe oder der Höhe. Aber vermutlich steckt mehr dahinter als nur ein Rausch. Kletterer erzählen davon, dass ihr Sport ihnen ein Gefühl von geistiger Klarheit und Präsenz und auch Kontrolle vermittle, das sie sonst nicht erfahren. Dieses hängt mit der Gefahr zusammen, die jeden ablenkenden Gedanken verbietet. Im Skispringen wird das ähnlich sein, nur dass es sich hier um einen harten Wettkampf handelt. Und Fairall hatte sich ja verletzt, weil sein Ehrgeiz die Kontrolle verdrängte, als er das ersehnte Ziel hinter der grünen Linie sah. US-Trainer Norcic hat nun viele Gespräche mit seinen Athleten geführt. Es sei eine Herausforderung, sagt er, den Ehrgeiz zu entfachen und gleichzeitig zu beherrschen: "Manche wissen von selber, wann sie einen Sprung beenden müssen, manchen musst du sagen: Slow down!"

An diesem Dienstagabend, in der Routine der Vierschanzentournee, lässt es sich schwer vorstellen, dass Fairalls Traum je wahr werden wird. Aber er spricht weiter und weiter und berichtet von seinen Projekten. Er fuhr im Sommer Wasserski und im Schnee Monoski, er will ein Buch schreiben darüber, wie ihm nun seine Fähigkeiten als Athlet helfen. Er erzählt, wie er sich entschied zwischen Abhängen und Anpacken, und wie er sein Leben plötzlich als "weißes Blatt Papier" begriff, und es alleine ihm obliege, etwas darauf zu schreiben und sich neue Horizonte zu erschließen. Fairall fliegt also wieder. Und wer weiß, vielleicht fliegt er ja, wenn auch nicht im Wettkampf, irgendwann doch wieder auf Skiern.

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