Skispringen: Toni Innauer:"Die Sportler werden mit Techno zugedröhnt"

Vor dem Start der Vierschanzentournee spricht Österreichs Skisprung-Legende Toni Innauer über die fragwürdige Entwicklung seiner Sportart und seinen Abschied als Sportdirektor.

Thomas Hahn

Der 52-jährige Toni Innauer hat seinen Sport auf verschiedene Arten geprägt: Zunächst als Athlet: Innauer war Skiflug-Weltrekordler (1976), Olympiasieger (1980) sowie der erste Skispringer, der für den perfekten Sprung fünfmal die Höchstnote 20 bekam. Später - nach einem Philosophie-, Psychologie- und Sport-Studium - als Trainer im Österreichischen Skiverband, ehe er als ÖSV-Skisprungdirektor die österreichische Erfolgsära maßgeblich beeinflusste. In diesem Sommer zog sich Innauer ins Privatleben zurück. Er lebt als Autor und Vortragsreisender bei Innsbruck. In diesem Jahr erschien seine nachdenkliche Autobiographie "Am Puls des Erfolgs".

Austria's Morgenstern soars through the air during the qualification round of the individual large hill ski jumping World Cup in Engelberg

Neue Bindung, neues Glück? Das Skispringen steht vor dem nächsten Technologie-Sprung.

(Foto: REUTERS)

SZ: Herr Innauer, wissen Sie schon, was Sie heuer an Neujahr machen?

Innauer: Das ist das Schöne, dass ich das nicht weiß nach den vielen Jahren.

SZ: 35 Jahre lang haben Sie sich von der Vierschanzentournee den Jahreswechsel prägen lassen. Wie hält man das aus als intelligenter Mensch?

Innauer: Es gibt schon verschiedene Ebenen zu durchleben. Sportler, Trainer, Sportdirektor. Die internationale Dimension kommt dazu, das füllt dann ein bisschen was aus. Aber natürlich, dieses sich immer Wiederholende verliert irgendwann seinen Reiz.

SZ: Wollten Sie deswegen nicht mehr Sprung-Direktor des ÖSV sein?

Innauer: Auch. Die Faszination lässt einfach nach, jedes Jahr neue Dinge zu entwickeln und letztlich nur an Siegen gemessen zu werden.

SZ: Oder ist auch ein Grund, dass das Skispringen sich in eine Richtung entwickelt, die den Sport infrage stellt?

Innauer: Naja, ein bisschen haben Sie da den Idealisten in mir aufgespürt. Das Skispringen ist ein einzigartiger Sport, der erst seit Kurzem ein Profisport ist und in Dinge wie Kommerzialisierung, Prominenz oder Status nicht langsam hineinwachsen konnte. Da merke ich, dass die Einzigartigkeit verloren geht. Und dass teilweise nicht mehr verstanden worden ist, was ich bewahren will.

SZ: Von wem nicht mehr verstanden?

Innauer: Von Managern, aber auch von Sportlern, bei denen manchmal ein ungebremstes Motiv vorherrscht, viel Geld zu verdienen und schnell berühmt zu werden - ohne den Überblick aus jahrzehntelangem Mitgestalten. Da sehe ich, dass viele wertvolle Dinge Gefahr laufen, verloren zu gehen.

SZ: Zum Beispiel?

Innauer: Das Skispringen war bis vor Kurzem ein Sport, den ehemalige Skispringer in seiner Entwicklung sehr stark mitgestaltet haben mit ihrem Eigengefühl für die Sache. Jetzt beeinflussen es immer mehr Leute, deren Kompetenzen im Medial-Wirtschaftlichen und Sportpolitischen liegen. Die Durchlässigkeit von der Basis nach oben wird schwächer. Das ist wohl nicht zu verhindern, aber an dieser umkämpften Grenze zwischen Ideal und Kommerz werden immer wieder Entscheidungen zugunsten der wirtschaftlichen Nutzung gefällt.

SZ: Auch bei der Vierschanzentournee, der Traditionsmesse des Springens?

Innauer: Die Tournee hat eine starke innere Kraft wegen ihrer Tradition und Einzigartigkeit. Es sind andere Weltcup-Stationen, die reindrängen, drinbleiben wollen und das mit Mitteln zu erreichen versuchen, die es genauso bei Bum-Bum-Beachpartys gibt. Die Leistungen der Sportler werden dabei oft mit Techno und Chauvinismus zugedröhnt, statt mit Stil und Respekt präsentiert.

SZ: Skispringen wirkt dieser Tage etwas verändert. Die neuen Bindungen lassen die Leute wieder besser fliegen.

Innauer: Das ist vielleicht so ein Beispiel: Wenn ehemalige Sportler die Entscheidungen getroffen haben, dann war das im Internationalen Skiverband (Fis) nach einer klaren Linie: Die Reduktion der Hilfsmittel ist eine Gundvoraussetzung, um den puren Sport messbar zu machen, mit möglichst wenig Technik, welche die Leistung verfälschen könnte. Hinter manchen Entscheidungen spürt man jetzt überdeutlich nationales oder politisches Kalkül. Es ist nicht einmal diskutiert worden über eine Reglementierung der Bindung, sondern es ist einfach freigegeben worden. Nicht befriedigend.

SZ: Warum?

Innauer: Jeder entwickelt vor sich hin, Sicherheitsstandards gibt es kaum. Dort liegt ein Risiko, es gibt ja nicht nur Nationalmannschaften, die das Budget haben, das sorgfältig zu machen. Man weiß nicht, wie sich die Entwicklung auf ein beeindruckend ausbalanciertes System mit Skilänge und Körpergewicht auswirken wird. Und dann ist es wie immer bei Technologiesprüngen: Wenn die Verkürzungsmöglichkeiten im Anlauf der Schanzen ausgeschöpft sind oder gar die Aufsprungneigungen nicht mehr stimmen, wird es unangenehm. Diese durch die Bindung flach geführten Ski ermöglichen nun mal eine effektivere Flugkurve.

"Kinder an der Weltspitze tun keinem Sport gut"

SZ: Die Bindungsdebatte begann bei Olympia, als Simon Ammann plötzlich eine neue Bindung hatte und dominierte. Es gab Proteste, doch laut Fis entsprach die Bindung den Regeln - und sie hat die Regeln im Sommer auch nicht im Sinne der Protestierer verändert. Warum?

Toni Innauer

Seit 35 Jahren im Skisprung-Geschäft: Toni Innauer, 52.

(Foto: imago sportfotodienst)

Innauer: Mir hat die ganze Geschichte zwei Dinge gezeigt. Erstens: Wie wichtig Materialregulative sind. Zweitens: Dass man die Reglements im Sport von Außenstehenden kontrollieren lassen sollte, die nicht absolutistisch die Gesetze schaffen und sie gleichzeitig selber überprüfen. Im Skispringen wäre das ein außenstehender TÜV, der die in den Gremien festgesetzten Regeln kontrolliert und darüber unabhängig entscheidet. In Vancouver ist es einfach sehr unpopulär gewesen, gegen den sympathischen Ammann zu entscheiden. Und jetzt meinen eben manche, es tut dem Image des Skispringens gut, wenn mehr Ingenieurskunst einfließt. Vielleicht ist es so. Ich glaube, dass die Unberechenbarkeiten größer sind. Ich wäre dafür gewesen, das zu diskutieren und die Bindung auf sehr einfache Dinge zu reduzieren.

SZ: Geht die jüngste Entwicklung zu einem athletischeren Springen und gegen die Vorteile der Leichtgewichte wieder rückwärts durch die neue Bindung?

Innauer: Ich hätte das vermutet. Die Weltcup-Resultate lassen hoffen, dass es vielleicht gar nicht so schlimm ist. Es würde mich für den Sport freuen, wenn ich mich getäuscht hätte. Die Athleten, die vorne sind, kann ich unmöglich auf ihre Bindung reduzieren, die sind sprungtechnisch und von ihrer Kraft und Dynamik am Schanzentisch her exzellent. Man weiß nur nicht, ob das das Ende der Entwicklung ist. Wie kommen ganz junge superleichte Sportler damit zurecht? Das Horrorszenario wäre der Einsatz von 13-, 14-Jährigen Leichtgewichten im Weltcup. Je leichter und kleiner der Sportler ist, desto mehr profitiert er von der konstanten Skibreite, weil ja nur die Länge an die Körpergröße orientiert ist. Es wäre nicht undenkbar, dass ein technisch hervorragend entwickelter 14-Jähriger plötzlich mithalten könnte, auch wegen dieses offenen Bindungs-Reglements, weil er mit der Bindung den Ski im Flug plan führen kann. Durch die deutlich größere Segelfläche im Verhältnis zum Körpergewicht ergeben sich Vorteile bei der Nutzung der auftretenden Luftkräfte. Kinder an der Weltspitze tun keinem Sport gut. Und noch gibt es keine Regel, die Überehrgeizige in diesem Szenario bremsen könnte.

SZ: Österreich spielt in gewisser Weise den deutschen Boom zur Jahrtausendwende nach. Mit großem Aufwand, was die Betreuung der Sportler betrifft. Bringen die im ÖSV-System erzogenen Sportler noch Ihren Idealismus mit?

Innauer: Ich möchte mich nicht darauf festnageln lassen, dass ich der naive Idealist bin, der mit der Zeit nicht ganz mitkommt. Es geht immer um Schwerpunkte, um die Gewichtung. Wie viel lässt man sich jetzt ansaugen von den Bedürfnissen des Marktes, und wie sehr bleibt man am Boden. Da muss man den jungen Sportler ein bisschen mehr behüten. Es hat nun mal eine gewaltige Faszination, berühmt zu sein, dass man sehr leicht mal den Bezug zu sich verliert dabei.

SZ: Leben Sportler wie Olympiasieger Thomas Morgenstern oder Rekord-Weltcup-Gewinner Gregor Schlierenzauer noch nach den Werten ihres Sports?

Innauer: Letztlich kann man das erst beantworten, wenn sie mit dem Sport aufhören. Die Antwort jetzt lautet: Wer sich verliert in der Öffentlichkeit und im Getriebe, der wird nicht mehr gut skispringen. Es ist einfach notwendig, die Sache zu lieben, den Mut und die Besessenheit zu haben, äußerst eifrig zu trainieren, sonst verliert man sportlich den Anschluss. Dazu muss man bei sich bleiben.

SZ: Schaffen die Genannten das?

Innauer: Schlierenzauer (derzeit verletzt und im Weltcup weit zurück, d. Red.) ist jetzt in der Phase, wo dieser Beweis ansteht. Morgenstern hat schon einiges mitgemacht, der hat schon einen vermeintlich begabteren Jüngeren mittelfristig an sich vorbeiziehen lassen müssen, der war im Schatten und hat es wieder hoch geschafft. Das glückt den Wenigsten. Morgi hat sich schon mehrmals und erfolgreich zum Thomas gehäutet.

SZ: Österreich bringt weiterhin erstklassige Skispringer hervor. Was wird aus denen neben Morgenstern, Tournee-Titelverteidiger Kofler oder Schlierenzauer, die alle noch jung sind?

Innauer: Die arbeiten und hoffen unter starkem Selektionsdruck auf einen Einsatz, verschärft auch durch die Entscheidung der Fis, den Topnationen einen Startplatz zu streichen. Zukunftsszenario? Keine Ahnung. Bosman hat den Fußball verändert, ob etwas Ähnliches im Skispringen kommt, dass gut ausgebildete Sportler möglicherweise einen Nationenwechsel suchen - das kann ich nicht abschätzen. Aber das sind Ideenfelder, die sich plötzlich auftun könnten.

SZ: Auf dem Trainersektor ist es schon so, viele Nationen beschäftigen Finnen oder Österreicher.

Innauer: Deshalb gleichen sich auch die Systeme immer mehr. Den Unterschied machen dann die verfügbaren Talente. Da haben wir den Vorteil, dass wir schon vor 15 Jahren konsequent und mit viel Gefühl unterschiedlichste Nachwuchsinitiativen gestartet haben.

"Der Sport könnte ein Vorbild sein"

SZ: In der österreichischen Schule steckt auch ein bisschen Finnland: Der Skisprung-Weise Mika Kojonkoski, derzeit Nationaltrainer der Norweger, war auch bei Ihnen mal Nationaltrainer.

Innauer: Kojonkoski hat viele wesentliche Impulse gebracht, wir waren damals zu sehr durch unsere glorreiche Vergangenheit geprägt, aber immerhin offen für Neues. Er hat eine moderne, selbstbewusst anspruchsvolle Interpretation des Trainerberufs geliefert, wie sie aktuell zum Beispiel Österreichs Nationaltrainer Alex Pointner lebt. Kojonkoski hat, abweichend von unserer Trainingstradition, die nervale Ansteuerung bei der Muskeltätigkeit fokussiert. Wir setzten noch auf die klassische Muskelaufbau-Trainingslehre. Aber auch von der Bewegungsmechanik her kamen neue, inspirierende Gedanken. Wobei meines Erachtens im Abgleich mit dem österreichischen System eine ganzheitliche Erfassung des Skisprungtrainings entstand.

SZ: Kojonkoski hört nach dieser Saison auch auf. Es sieht so aus, als habe da der nächste intelligente Mensch genug von der kleinen Skisprungwelt.

Innauer: Das kann ich mir schon vorstellen. Das ist ein hartes Geschäft, das er da macht im Ausland. In einer der ersten Springernationen immer wieder die Erwartungen befriedigen zu müssen, teilweise mit sehr schwierigen Sportlern.

SZ: Warum sind Skispringer so schwierig? Es gibt relativ viele Eskapaden, wenn man an Matti Nykänen denkt, Lars Bystöl, Harri Olli.

Innauer: Das hat sicherlich auch mit der Tätigkeit, dem Training und den ganzen Begleiterscheinungen im Skispringen zu tun, die einen hochsensiblen Sportlertypen sozusagen designen, der ein vertrauensvolles Umfeld braucht. Im alpinen Rennsport gibt es Trainingsformen und Essgewohnheiten, die einen Menschen körperlich wuchtiger und stabiler machen, das drückt sich auch mental aus. Wenn jemand, wie beim Skisprung-Training, ständig intensiv angereizt wird, ohne ihm die natürlichen Gewichtsreserven zu gönnen, dann wird der ein bisschen zimperlicher, nervöser, hellhöriger, was auch immer.

SZ: Liegt das auch daran, dass der Skispringer sich ständig in so einen speziellen Zustand von Konzentration begeben muss, weil er den richtigen Zeitpunkt des Absprungs erwischen muss?

Innauer: Weniger, der Punkt wird mehr aus dem Rhythmus heraus erraten, wie der Einsatz beim Musizieren. Sich stur auf die Kante zu konzentrieren, wäre an sich schon ein Fehler. Aber um die speziellen Fähigkeiten mit möglichst wenig Körpergewicht, unheimlicher Sprungkraft und Explosivität zu haben, sind einfach Trainingsformen notwendig, die strapazieren.

SZ: Sie meinen die nervale Ansteuerung der Muskelprozesse. Wie geht das?

Innauer: Wenn Sie normal Ihre Kraft steigern, machen Sie beim Gewichtetraining 10 bis 15 Wiederholungen und essen viel Eiweiß. Als Skispringer müssen Sie schauen, dass das Gewicht im Rahmen des Body-Mass-Index bleibt, der gerade noch zulässig ist, aber trotzdem sehr viel Kraft entwickeln. Da geht nichts mit 15 Wiederholungen und Eiweiß, sonst würden Sie Flugballast zulegen. Stattdessen macht der Skispringer eine oder zwei Wiederholungen mit höchster Willensanstrengung und maximaler Geschwindigkeit. Rekrutierung aller Muskelfasern. Oder er macht einen Tiefsprung. Springt von einem Tisch auf den Boden und dann sofort wieder schnell weg, um die Muskelfasern in einem Augenblick hochgradig zum Einsatz zu bringen. Der Springer muss sich pushen bis zum Letzten für den nötigen Trainingseffekt. Vermutlich bilden sich so eher im Gehirn als im Oberschenkel neue effizientere Vernetzungen.

SZ: Gibt es auch im Skispringen eine krankhafte Gier nach Leistung?

Innauer: Leider, und darum bin ich auch sehr stolz, dass es (2004, die Redaktion) trotzdem geglückt ist, ein Mindestgewicht durchzusetzen. Mir ist angst und bange geworden beim Leistungshungern. Einige Trainer haben früh erkannt, über das Gewicht ist Leistung zu holen, und die Verantwortung an Mediziner delegiert - aber dass dieser Bereich so gefährlich ist, dass der Athlet ihn aus der Kontrolle verlieren kann, dass er zu Magersucht oder Bulimie führen kann, das wurde teilweise ausgeblendet.

SZ: Das war Leistung um jeden Preis.

Innauer: Der Sport könnte ein Vorbild sein, wenn er sich selbst und die Verantwortung für seine Spielregeln ernst nimmt. Und da habe ich gemerkt, dass es im Berufssport immer schwieriger wird, vernünftige, humane Ideen umzusetzen. Man wird, wenn man Kollateraleffekte berücksichtigen will, fälschlicherweise als naiv betrachtet. Wenn man Erfolg absolut sieht und auch das Gefühl hat, solange ich nicht erwischt werde, ist die Wahl der Mittel egal - dann sind wir in einer Situation, die uns langfristig ruiniert. Deshalb müssen wir uns den Sport immer wieder genau anschauen und unsere Regeln bedenken: Sind da genug Regenerationszeiten drin? Ist das menschlich zumutbar, was wir verlangen? Wenn wir das nicht tun, wird der Bereich versaut.

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