Skispringer Stefan Kraft:Ein Leichtgewicht auf riesigen Schwingen
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Zeit für junge Top-Skispringer? Das Publikum muss warten: Der Österreicher Stefan Kraft, 30, könnte zum Saisonstart einen Rekord aufstellen, wenn ihm nicht noch ein deutscher Konkurrent gefährlich wird.
Von Volker Kreisl, München/Lillehammer
Man weiß nie, wie weit er jetzt fliegt. Wenn Stefan Kraft abspringt, dann nicht in höhere Luft-Etagen, wie es die anderen großen Skispringer machen. Krafts Stärken liegen nicht in der Muskelkraft, sondern im Gefühl. Wie einst der Deutsche Sven Hannawald legt er sich auf das Luftkissen unter ihm und surft lässig hinab, wenige Meter über dem weißen Hang - ohne einen Wackler oder ein Korrigieren der Hände. Die Länge dieser Schleichphasen variieren dabei, Kraft stürzt mal in ein Luftloch, oder, auch das kommt vor, er ist einfach unkonzentriert. Doch das muss lange her sein, jedenfalls wirkt es gerade so.
Lillehammer zum Winteranfang 23/24: Die Temperaturen liegen bei 15 bis 18 Grad minus, die Augen der Springer tränen, die Fingerspitzen frieren, die Nasen laufen, und die meisten eilen mit den Skiern auf den Schultern nach dem Sprung ins Warme, schon deshalb, weil sie sich am Anfang des Winters nicht gleich erkälten wollen. Ausnahme ist eine größere Gruppe deutscher und österreichischer Skispringer, die gerade fast die gesamten Top Ten besetzen. Seit Saisonbeginn vor zwei Wochen haben die Springer der beiden Kernnationen dieses Sports viel zu erklären, auch gleich nach dem Sprung noch. Kraft aber sieht besonders lässig aus, einerseits, weil ihn schon immer kaum was aus der Ruhe bringen konnte, andererseits, weil er auch im übertragenen Sinne auf noch einem Kissen fliegt, nämlich auf dem seines Selbstvertrauens.
Vier Siege hat er nun gesammelt, mit 400 Punkten liegt er gleichauf mit den ehemaligen österreichischen Kollegen Thomas Morgenstern, Andreas Felder sowie dem Finnen Janne Ahonen, die ebenfalls die ersten Weltcups gewonnen hatten. Und weil er keine Anzeichen von Verunsicherung zeigt, könnte der Krafti, wie er in Österreich heißt, einen neuen Siege-am-Stück-Rekord aufstellen. Sechs davon in einer Reihe hatte Morgenstern im Dezember 2007 zuwege gebracht. Dazu müsste Kraft am kommenden Wochenende in Klingenthal/Sachsen nur einfach so weiterspringen.
Gefährlich werden könnte ihm Andreas Wellinger, mit seinen langen Beinen
Viele Spitzenathleten in diversen Sportarten werden bei eigenen Serien irgendwann nervös. Der Erfolg wird immer größer, irgendwann erhält die Dimension das Prädikat historisch, immer mehr Medien begleiten den Höhenflug, und auch Kraft könnte allmählich vielleicht unsicher werden. Hat nicht auch er einen Makel in seinem System, nämlich die schwächere Sprungkraft? Außerdem: Auch wenn sie stark wirkt, so ist es immer noch eine Frühform, die einer erst mal festigen muss. Doch das sind alles Einwände, die bei den meisten Skispringern berechtigt sind, nicht aber bei Stefan Kraft aus Schwarzach im Pongau, 30 Jahre alt, Vierschanzentourneesieger, Team-Olympiasieger, dreimaliger Weltmeister und Skiflug-Rekordhalter seit 2017, als er in Vikersund 253,5 Meter weit geflogen war.
"Der Rekord ist ihm zuzutrauen", sagt jedenfalls Toni Innauer, selber einst österreichischer Skisprung-Olympiasieger, später Trainer und ÖSV-Sportdirektor. Das Phänomen der Frühform an sich ist nicht ungewöhnlich, jedoch waren oft die frühen Sieger überfordert und verschwanden wieder. Diesmal könnte es länger dauern, schätzt Innauer, denn Stefan Krafts Fähigkeiten sind solide. Sie entspringen anderthalb Jahrzehnten Sprungerfahrung, er kennt die Tücken aller wichtigen Schanzen, nicht nur die zuletzt gesprungenen von Ruka, Lillehammer und die folgende in Sachsen, sondern alle.
Krafts Erfahrung, so hat Innauer beobachtet, erstreckt sich auch auf die innere Ruhe und das mittlerweile große Selbstvertrauen, woraus ein überlegener Sprungstil entstanden ist, was weitere Erfolge zeitigt, die wiederum Ruhe und innere Stärke bewirken. Zudem profitiert der Springer aus dem Pongau von einer tadellosen Skitechnik, auch wenn der Absprung selbst nicht seine Stärke ist.
Die Stärke, besser gesagt, Krafts Trumpf, ist sein Körper. 1,70 Meter nur ist er groß, er wiegt 56 Kilogramm. Damit ist er ein Leichtgewicht auf riesigen Schwingen, weil das Reglement zurzeit die Segelfläche der Skier für leichte Springer wie Kraft relativ groß gelassen hat. Zugute kommt Kraft auch seine Erfahrung, er kann bei seinem Segeltörn über den Schnee kleine Fehler besser als die Konkurrenten korrigieren, die früher landen. "Ein Fehler", sagt Innauer, "ist da nicht ausschlagkräftig." Insgesamt führt dies zu jenem Selbstvertrauen, das ihn gerade zur nächsten Bestmarke tragen könnte.
Gefährlich werden könnte ihm da derzeit Andreas Wellinger aus Ruhpolding, dessen Formkurve sich schon im Frühherbst andeutete und der sich anders als Stefan Kraft langsam seiner Bestverfassung annähert. Zumindest für die erste Saisonhälfte zeichnet sich da ein Duell zweier unterschiedlicher Springertypen ab. Anders als Kraft profitiert Wellinger von langen Beinen, die ihn ein bis zwei Etagen in die Luft höher katapultieren, wo er dann in einer Kurve fliegt, deren Ende je nach Pünktlichkeit beim Absprung vorbestimmt ist.
Nimmt man den Maßstab des jüngsten Weltcups, droht im Skisprungwinter ein Teamduell über mehrere Monate. Die besten Zwölf des Gesamtweltcups bestehen gerade aus lauter Österreichern und Deutschen, außer dem Japaner Ryoyu Kobayashi, dem Norweger Marius Lindvik und dem Slowenen Peter Prevc.
Stefan Kraft werden die drei auch keine schlaflosen Nächte bereiten - obwohl, einmal, kurz vor Olympia in Peking 2022, da verriet Kraft dem Wiener Standard, dass auch er Schwächen habe: "Wenn ich oben sitze, fällt's mir schwer." Und: "Wenn es um was geht, werd' ich nervös!" Doch zu große Hoffnungen sollten sich die anderen jetzt nicht machen. Der Krafti weiß nämlich auch: "Das kenn' ich ja schon."