Finale der Skispringer:Schanzen sind wie Liebschaften

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Flug vor den julischen Alpen: Karl Geiger springt von der Skiflugschanze in Planica. (Foto: Jure Makovec/AFP)

Ryoyu Kobayashi und Karl Geiger können noch Weltcup-Gesamtsieger werden, die Entscheidung fällt in Planica. Der Japaner hat einen großen Vorsprung - der Oberstdorfer aber eine spezielle Beziehung zur Riesenschanze Letalnica.

Von Volker Kreisl, Planica/München

Sicher, perfekt und in tadelloser Haltung war er vor vier Monaten in die Saison gestartet. Danach gelangen Ryoyu Kobayashi bislang acht Siege, insgesamt 18 Plätze unter den besten Fünf. Auch nach seinem Olympiasieg im Februar hielt er dieses Niveau, jedoch - Kobayashi ist zwar der überragende Springer, aber auch der vielleicht unglückliche Ausgebremste dieser Saison. Ende November war er binnen 14 Tagen wegen eines zu weiten Anzugs disqualifiziert worden und musste noch zweimal von Beginn an draußen bleiben, denn er hatte Corona.

Ein Platzverweis wegen des Anzugs ist oft nur Pech, Corona ohnehin. Wenn es also eine höhere Gerechtigkeit gäbe in diesem Sport, dann müsste Ryoyu Kobayashi an diesem Wochenende in Planica in Slowenien seinen zweiten Gesamtsieg längst in der Tasche haben. Doch die verpassten Punkte seiner Absenzen fehlen weiterhin, weshalb diese ultralange Saison erst am kommenden Wochenende, wenn die Krokusse schon blühen, ihren Gesamtsieger bekommt.

Fängt der Springer an nachzudenken, hebt er häufig zu spät ab

Doch Gerechtigkeit im Sport mit seinen vielen Einflüssen ist Illusion. Und die Konstellation in Planica in Slowenien wird wohl von den meisten begrüßt, weil noch einmal alle Augen auf zwei letzte Einzel-Wettkämpfe am Freitag und Sonntag gerichtet sind, die nicht nur eine lange, teils anstrengende Saison beenden, sondern dies auch noch geschieht auf einer Flugschanze mit spektakulären Bildern und vom Segeln berauschten Akteuren, darunter Karl Geiger, der Weltcupzweite und letzte Herausforderer Kobayashis.

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Der Oberstdorfer hatte ähnlich konstante Sprünge über die 26 Stationen gezeigt, nur nicht immer im ganz oberen Segment, und er war wohl mehr als Kobayashi abhängig von seinem Verhältnis zur jeweiligen Schanze. Das liegt an einer der Besonderheiten in diesem Sprungsport: Schanzen sind wie Liebschaften. Mit manchen Anlagen hat der Springer oder die Springerin nach vielen Niederlagen ein Nichtverhältnis und freut sich darauf, wieder abzuhauen. Andere Schanzen verhalten sich unberechenbar, auf ihnen hängt viel vom Erfolg auch von Wetter und eigener Laune ab. Und dann stehen noch jene Bauwerke im Weltcup-Programm, auf denen erlebt der Springer beim Dreiklang von Anlauf, Radius und Abflug die reine Harmonie. Wie Karl Geiger auf der Letalnica, der Skiflugschanze in Planica/Slowenien.

Voraussetzung fürs gute Gefühl, also für jene Selbstsicherheit, die auch unbewusst gesteuerte Aktionen gelingen lässt, sind verschiedene Faktoren. Neben Gesundheit und Fitness ist dies im Skispringen etwa auch der Radius, also die Anlaufkrümmung vor der Kante. Ist dieser unrhythmisch oder irritiert er den Springer mit einer leichten, kaum erkennbaren Flachstrecke kurz vorm Absprungpunkt, dann fängt dieser an nachzudenken, was häufig den intuitiven Ablauf stört.

Das Ende von Kleinschanzen-Karle: Diesem Bakken hat Geiger einiges zu verdanken

Hat ein Springer wiederum nichts zu befürchten, dann läuft der gegenteilige Prozess ab. Er freut sich auf die Schanze, wie im Schlaf bewältigt er die Absprungphase, die ihn ohne Tempoverlust auf seinem Luftkissen dahin surfen lässt. In Geigers Fall kommt zur Harmonie zwischen Springer und Anlage auch noch etwas Abstrakteres hinzu. Man kann sagen, Geiger hat der Letalnica auch etwas zu verdanken, denn auch sie war mit beteiligt am Aufstieg des Oberstdorfer Talents. Geiger war schon Ende des vergangenen Jahrzehnts ein passabler Springer, jedoch auf kleineren Bakken, auf denen das Fluggefühl und das Selbstvertrauen noch nicht so sehr ins Gewicht fallen. Erst seit er 2020 bei der Skiflug-WM in Planica Weltmeister wurde, nennt ihn keiner mehr "Kleinschanzen-Karle". Wohl auch deshalb sagt Geiger, er möge diese Schanze, und zwar: "Sehr gerne."

Ein Allrounder ist er nun geworden, allerdings fehlen ihm noch die großen Titel in manchen Wettbewerben. Von Olympia in Pyeongchang kam er mit Team-Silber nach Hause, aus Peking kürzlich mit zwei Bronzemedaillen, nämlich im Team und auf der Großschanze. Den Skisprung-Gesamtweltcup hatte er 2020 relativ knapp verloren, Zweiter war er nach dem Saisonende. Auch einen Einzeltitel bei Nordischen Ski-Weltmeisterschaften strebt er noch an.

66 Punkte Rückstand, 200 Punkte noch zu vergeben - besonders groß sind Geigers Chancen nicht

Die letzte Rechnung dieses Skisprung-Winters ist nun verhältnismäßig einfach. 66 Punkte liegt Karl Geiger hinter Kobayashi zurück. Zwei Flug-Bewerbe sind es, der Sieger bekommt jeweils 100 Zähler. Besonders groß sind Geigers Chancen nicht, andererseits hatte auch Kobayashi in der letzten Zeit mal nur einen siebten Platz erreicht. Und würde Geiger am Freitag tatsächlich seine beste Leistung auf der Letalnica abrufen, dann könnte es für das zweite Fliegen am Sonntag tatsächlich noch einmal spannend werden.

Die letzte Prognose dieses Winters, jene über Stil, Sprungkraft und Fluggefühl spricht möglicherweise leicht für Geiger. Bundestrainer Stefan Horngacher beschwört die verbliebenen Möglichkeiten mit den Worten: "Es ist noch was drin." Und, mit dem Dreisatz: "Er ist in super Form, Planica liegt ihm, er freut sich darauf." Beide Kontrahenten sind zwar etwa gleichstark, beide können in Bestform und bei guten Verhältnissen regungslos wie Bergdohlen auf der Luft dahinsegeln, den Ausschlag dürfte aber wieder einmal die Ultrakurzzeit-Phase am Tisch der Schanze geben, jener Schanze, die Geiger so gerne mag.

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