Skispringen:Silber dahoim

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Ausgelassener Allgäuer: Karl Geiger jubelt bereits im Zielbereich und freut sich letztendlich über WM-Silber. (Foto: imago)

Der erste große Höhepunkt der Skispringer endet mit einer Pointe, die sogar den beherrschten Karl Geiger aus der Fassung bringt: Der 28-Jährige gewinnt nach einem turbulenten Winter die Silbermedaille auf der Normalschanze - in Sichtweite seines Elternhauses.

Von Volker Kreisl, Oberstdorf

Karl Geiger hat immer etwas zu analysieren. Er ist studierter Energie- und Umwelttechniker, und so hat er sich angewöhnt, seine Sprünge stets zu zerlegen, die Erfolge wie die Rückschläge. Ein Buch hat er dafür angelegt, und nach dem Wettkampftag, wenn er zu Hause oder im Hotelzimmer allein ist, setzt er sich hin und schreibt seine Selbstanalysen nieder. Immer. Was also würde er heute Abend hinein schreiben?, fragten ihn die Journalisten am Samstag. Nichts, sagte Geiger, "bin zu müde."

Für den Oberstdorfer waren die Geschehnisse dann doch etwas zu viel an diesem WM-Tag beim ersten großen Höhepunkt aus Sicht der Skispringer. Dabei wäre die Einleitung seines Logbucheintrages eigentlich nicht so schwer zu formulieren: ,Habe lange gehadert, Form aber kürzlich in Rasnov/Rumänien wieder aufgelebt, gute Mentalarbeit, Form rübergebracht zur WM, Abend voller Erfolg: Silber hinter Piotr und vor Anze.'

Dieses könnte die Grundlage der Analyse sein. Was Geiger nicht eintragen würde, wären wohl die Worte: ,Bin ziemlich ausgerastet.' Abends gegen sieben Uhr war dieses Normalschanzenspringen zu Ende gegangen, mit einem Silbergewinner Geiger, der hinter dem Polen Piotr Zyla und vor dem Slowenen Anze Lanisek sich im Ziel derart beim Jubeln verausgabte, dass auch dies seine Kräfte raubte. Geiger, der stille, beherrschte Skispringer, konnte es nicht fassen: WM-Silber auf der Kleinschanze, sozusagen in seinem Wohnzimmer. Nichts anderes stellt diese Anlage ja dar, die in Sichtweite seines Elternhauses liegt; auf der er vom Schülerhügel über die Jugendschanzen bis zu den ganz großen Bakken alles durchgemacht hatte.

Zunächst sieht es so aus, als würde das Heimspiel mal wieder kompliziert werden

,Wurde gefragt, was mir jetzt wichtiger ist', das könnte Geiger weiter notieren, ,der Skiflugtitel bei der WM in Planica im Dezember oder jetzt diese Silbermedaille zu Hause. Typische Frage, aber gar nicht so leicht zu beantworten. Gold ist objektiv wertvoller, Silber aber hier emotional stärker.'

Tatsächlich war Karl Geigers Erfolg in Planica/Slowenien noch um einen Medaillengrad höher und kam ebenfalls überraschend. Aber dieses Erlebnis hier war in einer anderen Dimension. Denn so eine WM im eigenen Land, und erst recht im eigenen Wohnzimmer, ist nicht zu übertreffen, da ist die Medaillenfarbe auch schon egal. In der Mixed-Zone hatte Geiger bekräftigt: "Die WM zu Hause erlebe ich nur einmal in der aktiven Karriere, deshalb ist das schon noch mal etwas Besonderes."

Hinweg über die grüne Linie: Karl Geiger passiert im zweiten Durchgang von der Normalschanze die Markierung des Führenden - nur der Pole Piotr Zyla ist am Ende noch besser. (Foto: Kai Pfaffenbach/Reuters)

Die Stunde davor war spannend, geradezu aufreibend, weshalb sich der sonst ebenfalls beherrschte deutsche Cheftrainer Stefan Horngacher und sein Assistent Christian Winkler, nachdem Bronze schon mal sicher war, auf dem Trainerpodest erst mal hinsetzen mussten und durchatmeten. Denn nach der Qualifikation am Freitag, mit der dieses lange Wochenende anfing, war das deutsche Team noch ohne Top-Ten-Platz dagestanden. Wieder sah es so aus, als würde das Heimspiel kompliziert werden. Doch am nächsten Tag traten Horngachers Springer selbstbewusster auf, Pius Paschke, am Ende Elfter, überraschte im ersten Durchgang mit einem makellosen Sprung auf Platz sechs, und Karl Geiger flog ebenfalls auf der Kleinschanze hoch und weit und landete tief.

Favorit Granerud, der sonst wie mit Autopilot springt, zeigt menschliche Fehler

Zugleich öffneten sich weitere Türen: Kamil Stoch, der Allrounder und aktuelle Tourneesieger aus Polen erwischte einen schlechten ersten Sprung und war damit schon aus dem Rennen. Und der Norweger Halvor Egner Granerud, der im Gesamtweltcup führt, der springt, als würde er vorher einen Autopiloten aktivieren, er zeigte plötzlich menschliche Fehler: Granerud sprang zu spät ab, geriet in Hektik, musste in der Luft rudern und sah bei der Landung vor sich im Schnee etwas aufleuchten, das ihm sonst immer entgeht, weil er locker drüber weg fliegt: die grüne Linie des Führenden. So weit fiel er zurück, dass er trotz eines Supersprungs am Ende nur noch Platz vier einnahm.

Sammelt Edelmetall: Für Karl Geiger bedeutet der zweite Platz auch die zweite Einzelmedaille bei Weltmeisterschaften. 2019 gewann er in Seefeld ebenfalls Silber - allerdings von der Großschanze. (Foto: Alexander Hassenstein/Getty)

Die Medaillengewinner waren diesmal jene Kollegen, die viel Talent haben, aber lange im Schatten von Hochbegabten viel Arbeit investierten, ehe auch sie gut sprangen: Sieger Zyla hatte stets Stoch und Dawid Kubacki vor sich, Bronzegewinner Anze Lanisek lag lange hinter den Prevc-Brüdern, Geiger arbeitete und sprang eine Weile im Schatten von Severin Freund und Andreas Wellinger. Der Oberstdorfer hatte jahrelang über seine Sprünge gegrübelt, eher er Teamsilber bei Olympia 2018 gewann, danach Einzelsilber und zweimal Teamgold bei der WM in Seefeld 2019 holte, bis er nun diesen verrückten Winter 2020/2021 erlebte. Geiger holte im Dezember den Skiflug-Titel, worauf er Vater einer Tochter wurde, die er eine Weile nicht sehen konnte, weil ihn das Coronavirus erwischt hatte. Bei der Vierschanzentournee gewann er gleich zum Auftakt, fiel wieder zurück, wurde dennoch in der Gesamtwertung Zweiter, verlor seine Form fast vollständig und kam rechtzeitig vor der WM zurück, um die Saison im Guten abzuschließen.

Insgesamt jedoch fiel eine stichhaltige Analyse von Geigers Sprüngen nicht ganz so leicht. ,Die stärksten Gegner haben gepatzt trotz guter Bedingungen, Leistung daher schwer an Konkurrenz zu messen, trotzdem: beide Absprünge getroffen, stabil geflogen, solide gelandet, keine Klagen', könnte also abschließend im Logbuch stehen. Vielleicht bleibt der Samstag im Logbuch aber auch ganz frei, denn es geht ja rasend schnell weiter bei dieser WM.

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