Skispringen:Plötzlich Flieger

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Ein Abend im Mittelpunkt: Karl Geiger lässt sich nach seinem Sieg von den 23000 Zuschauern in Willingen feiern. (Foto: Arne Dedert/dpa)

Anderthalb Meter unter Schanzenrekord: Karl Geiger aus Oberstdorf gelingt in Willingen der zweite Weltcupsieg. Kurz vor dem Beginn der Weltmeisterschaft zeigt er dabei eine nahezu perfekte Vorstellung

Von Volker Kreisl, Willingen/München

Karl Geiger hat nie ein großes Aufheben um seine Stärken gemacht. Über die verfügt er in allen Bereichen ein bisschen: beim Anlauf, beim Absprung, in der Luft, bei der Landung. Geiger hat sich damit eine feste Position im deutschen Skisprung-Team erarbeitet, wobei er zwar nie spektakulär auftrat, aber doch in allen Phasen solide Leistungen bot.

Bis zum Samstagnachmittag in Willingen. Da erwachte der Flieger Geiger.

Der Wind blies gar nicht sonderlich kräftig über den Hang, aber Geiger hatte mit einem famos hohen Sprung vom Schanzentisch die Grundlage geschaffen für einen Flug bis in den untersten Bereich der Mühlenkopfschanze, der größten unterhalb der Kategorie der Flugschanzen. Nun lag er stabil auf der Luft, hatte genügend Geschwindigkeit und ließ sich weit hinuntertragen. Geiger passierte die grüne Linie des Führenden, zudem die rote Hillsize-Marke von 145 Metern und kam schließlich in einen Bereich, den er als Landender in seiner Karriere kaum kennt: die Schanzenrekordzone, in der die Beine unter hohem Druck leicht nachgeben können. Die Höchstmarke von 152 Metern verpasste er zwar um anderthalb Meter, aber er setzte einen sauberen Telemark, bekam zweimal 19 Punkte und eine Gesamtnote, die auch die beiden besser Platzierten des ersten Durchgangs, der Japaner Ryoyu Kobayashi und der Pole Kamil Stoch, nicht mehr überboten. "Ich war entschlossen", sagte Geiger, "ich habe es durchgezogen. Auf einmal ist es geflogen."

Anders als bei seinem ersten Weltcupsieg in Engelberg im vergangenen Dezember, empfing den Oberstdorfer diesmal beim Abschwenken im Auslauf ein aufgerütteltes, ohnehin traditionell feierseliges Heimpublikum. Jährlich veranstaltet dieses in Willingen eine Skisprungfete. Laut wurde es also, und zu Recht ging Geiger diesmal noch ein bisschen mehr aus sich heraus, auf dem Leader-Podest, auf dem Siegerpodest und auch noch danach. Und natürlich drängte sich, vor allem wegen dieser neuen, großartigen Flugleistung, sogleich der Gedanke auf: Rettet Geiger nun die deutsche Skisprungbilanz ab kommender Woche bei der Weltmeisterschaft in Seefeld und Innsbruck?

Nur überdeckt diesen ersten Gedanken sogleich ein Déjà-Vue-Erlebnis. Geiger als Mitfavorit - das gab es Ende Dezember schon einmal, als er mit seinem Engelberg-Sieg zur Vierschanzentournee aufbrach und doch schon auf seiner Heimschanze in Oberstdorf zurückfiel, und ab Garmisch-Partenkirchen wieder jener Geiger war, den man in dieser Saison kannte: bescheiden, immer mit kleinen, aber zuverlässigen Schritten unterwegs, meistens vorwärts, oft aber auch zurück. So war er schon im vergangenen Sommer zu einer beachtlichen Form gekommen, die ihn am Ende auf Platz zwei des Grand Prix auf den Mattenschanzen beförderte.

Ab November gelang ihm der nächste Schritt. Er wurde vom Ergänzungs- zum Top-Ten-Springer, stärkte sein Selbstbewusstsein auch dadurch, dass er mit den Letzten des Tages, also den Besten der Welt, im Schanzenturm auf seinen Einsatz wartete. Dennoch blieb er der alte Geiger, der sich lockenden Fragen nach großen Chancen stets mit der Antwort widersetzt, er schaue erst mal, dass er seinen Sprung so gut wie möglich hinkriegt, und dann schaue er, was daraus wird.

Dabei wird es wohl bleiben. Das deutsche Männer-Skispringen macht gerade eine schwere Phase durch, der Gedanke, wie es im Sommer nach dem Abschied von Trainer Werner Schuster weitergeht, mag auch in den Köpfen sein. Echte Favoriten hat das Team derzeit nicht. Markus Eisenbichler (Zweiter am Sonntag), Geiger (6.), vielleicht auch Richard Freitag, der sich nun auf die Ränge sechs und vier steigerte, sind bei der WM auf der Bergisel-Schanze und der kleineren Toni-Seelos-Schanze Podestplätze zuzutrauen - als Favoriten gelten aber die Springer aus Polen und Kobayashi.

Und diese Schanzen liegen den Fliegertypen weniger. Vor allem der Backen von Innsbruck verlangt präzise, pünktliche Bewegungen, die eher den Sprung-Spezialisten gelingen. Vielleicht aber auch jenen, die im gesamten Schanzen-Ablauf ein bisschen Potenzial haben und dies dank wachsenden Selbstvertrauens immer besser abrufen. Karl Geiger sagte nach seinem 150,5-Meter-Flug von Willingen immerhin: "Das war einer der besten Sprünge, die ich je gemacht habe." Schuster sah bei ihm nun "Sprünge wie aus einem Guss". Das klingt nach Perfektion. Und doch bleibt Geiger, wie er ist. Auch bei der WM wird er nur schauen, dass er seinen Sprung so gut wie möglich hinkriegt, und dann, was daraus wird.

© SZ vom 18.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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