Skispringen bei Olympia:Die Nachteule schaut zu

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Olympiasieger sucht Leichtigkeit: Andreas Wellingers Formkurve in diesem Winter ähnelt dem gezackten Alpenhauptkamm. (Foto: Thomas Bachun/Gepa/imago)

Vor vier Jahren erwies sich Andreas Wellinger in Hochform - als weinender und feiernder Skisprung-Olympiasieger. Nun verpasst er mangels Form die Spiele in Peking.

Von Volker Kreisl

Es ist eigentlich nicht vorstellbar, dass die gute Laune und das breite Grinsen dieses Skispringers einmal verschwinden. Andreas Wellinger, der immer einen lockeren Spruch findet, der auch nach kurzen Sprüngen noch Antworten gibt und überhaupt gerne feiert, der gibt doch nicht auf. Aber nun: dieses trübe Statement. Kein "So!", kein "Halb so wild!", auch kein "Schau ma mal, wie's weitergeht!", mit dem er sonst wieder das nächste Formhoch anpeilt. Stattdessen eine leise Stimme und der gemurmelte Schlusssatz: "Da kann man nix anderes sagen, als: Scheiße gelaufen."

Wellinger zählt zu jenen Skispringern, die im langen Weltcupwinter selten glänzen, dafür zum Saisongipfel, sei es Weltmeisterschaft oder Olympia, meist Anwärter auf eine Medaille sind. Vielleicht auch deshalb, weil Großereignisse irgendwie auch wie große Partys sind. Wellingers letzte Qualifikationschance für Peking zuletzt in Titisee-Neustadt wurde also mit Spannung erwartet, dann aber, nach vielen Anläufen in diesem Winter, erreichte ihn die Nachricht: coronapositiv. "Zwar knapp über dem Grenzwert", sagte Wellinger, "aber trotzdem positiv. Das ist extrem bitter."

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Olympia, das war sofort klar, ist für ihn nicht mehr möglich. Zum einen, weil weitere Trainingszeit fehlt, zum anderen, weil er die letzten Punkte nicht mehr sammeln konnte und vor ihm bessere deutsche Springer platziert bleiben. Die Mannschaft sieht tatsächlich auch ohne Wellinger respektabel aus dank Constantin Schmid, 22, dem erfahrenen Pius Paschke, dem zuverlässig springenden Stephan Leyhe, und natürlich dem Medaillenkandidaten Markus Eisenbichler und dem Medaillenfavoriten Karl Geiger. Falls sich keiner verletzt, bleiben Wellinger und der andere Formsucher Severin Freund zurück - jene beiden Springer, die das bis heute andauernde deutsche Skisprung-Hoch in den Zehnerjahren mit angeschoben hatten.

Wellinger hebt sich durchaus ab vom Gros dieser Flugsportler

Freund war der souveräne Kapitän, Wellinger das Symbol für innere Leichtigkeit. Als Teenager erreichte er 2014 in Sotschi mit dem Team Olympiagold. Es folgten zwei WM-Silbermedaillen und dann, 2018, der Auftritt in Pyeongchang. Dort, im bitterkalten Skisprungstadion, erwischte Wellinger jene konstante Leistungsfähigkeit, die man jungen Skispringern oft leichtfertig abspricht.

Seit Jens Weißflog 1994 hatten die deutschen Männer kein olympisches Einzelgold mehr errungen, bis Wellinger nach einem guten ersten Sprung von der Normalschanze, im Finale oben auf dem Balken saß, sich in die Spur fallen ließ, auf die Kante zuraste - und dann einfach immer weiter flog, wie es eben junge Athleten ohne Sorgen schaffen. Die grüne Linie des bis dahin Führenden ließ er locker hinter sich und damit auch die letzten Springer, die noch oben saßen. Am Ende kauerte Wellinger mit versteinertem Gesicht im Schnee und kippte, als dann die "1" hinter seinem Namen aufleuchtete, langsam in den Schnee, die Hände vorm Gesicht.

Einst das Symbol für innere Leichtigkeit im deutschen Team: Andreas Wellinger vor zwei Jahren beim Skifliegen in Oberstdorf. (Foto: Jürgen Feichter/Eibner/imago)

Der Ruhpoldinger hebt sich durchaus ab vom Gros dieser Flugsportler, die doch mehrheitlich beherrschte Menschen sind, meist sachlich denkend und zu Selbstoptimierung und Konzentration fähig. Überschwang ist nicht die Sache der meisten Springer, Wellinger indes stiefelt nach Erfolgen schon mal fröhlich zur Pressekonferenz und lässt die bereits am Text arbeitenden Journalisten mit frechen Witzen wissen, dass er nun da ist.

"Der Körper war voller Adrenalin, die Tränen sind rausgesprudelt"

In Südkorea 2018 ergab sich aus dieser spontanen Art eine durchaus respektable Siegesfeier. Am nächsten Tag berichtete Wellinger von einer auf der Bühne geköpften Sektflasche zu Mitternacht mit Biathlon-Siegerin Laura Dahlmeier. Ins Hotel, taxierte er später, ging es dann wohl gegen fünf Uhr, weitere Details seiner Gold-Nacht waren ihm nicht mehr geläufig. Was er allerdings den Medien am nächsten Tag wieder erläutern konnte, war der Grund, warum sein Handy zeitweise den Geist aufgab: "Es waren 160 SMS drauf, die Techniker arbeiten dran." Dem Sportinformationsdienst lieferte er noch den Grund, weshalb er im Moment des Sieges vornüber in den Schnee kippte: "Mein Kopf war leer, mein Körper voller Adrenalin, und dann sind die Tränen rausgesprudelt."

Wüsste man nicht, dass viele große Skispringer gerade deshalb siegen, weil sie keine Feierbiester sind, könnte man mehr Wellingers fordern. Aber es würde schon reichen, wenn das Original wieder zurückfindet in die Spitze. Davon wäre er wohl auch ohne die Corona-Sperre nun weit entfernt - Wellingers Formkurve dieses Winters ähnelt dem gezackten Alpenhauptkamm. Es ging hoch und runter, oft auch direkt abwechselnd. In Klingenthal im Dezember landete er auf Rang sechs, davor und danach auf 37 und 21. Ein Aufschwung deutete sich mehrmals an, bestätigte sich aber nicht.

Und doch hatte er schon schlimmere Zeiten erlebt, sein Lausbuben-Image stimmt ohnehin schon lange nicht mehr. Im Juni 2019 erlitt Wellinger im Training eine schwere Knieverletzung, der Riss des vorderen Kreuzbandes war nur ein Teil des Schadens. Als er im Sommer drauf wieder loslegen wollte, fiel er auf die Schulter, das Schlüsselbein brach. Wieder verpasste er fast eine ganze Saison.

Verglichen mit damals ist seine Situation heute wohl doch nicht so aussichtslos. Sein Körper ist fit, Wellinger könnte seine Sprungform, die sich ihm ja schon wieder zeigte, vielleicht bald wieder festhalten. Olympia aber wird er nur im Fernsehen erleben.

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